Verein Journalismus und Wissenschaft

Globalismus und Sezessionen

In der zwei­ten Hälf­te des 20. Jahr­hun­derts und in den ers­ten Tagen des 21. Jahr­hun­derts domi­nier­te die Ideo­lo­gie des Glo­ba­lis­mus. Über Finanz­strö­me, inter­na­tio­na­len Han­del, supra­na­tio­na­le Insti­tu­tio­nen und neue Medi­en (WWW) soll­te die Welt zu einem „glo­ba­len Dorf“ schrumpfen.

Eine Tat­sa­che paßt hier aller­dings nicht ins Bild: „Exis­tier­ten im Jahr 1914 ledig­lich 57 Staa­ten auf der Welt, waren es nach dem Zwei­ten Welt­krieg schon gut 100. Nach dem v.a. in den 1960er-Jah­ren inten­siv erfolg­ten Ent­ko­lo­nia­li­sie­rungs­pro­zess und dem Ende der Sowjet­uni­on 1991 sind mitt­ler­wei­le 193 Staa­ten Mit­glied der Ver­ein­ten Natio­nen“, führt der His­to­ri­ker Mar­tin Grosch in sei­nem emp­feh­lens­wer­ten, soeben erschie­ne­nen Buch über Sezes­sio­nen und Das erbit­ter­te Rin­gen um Unab­hän­gig­keit aus.

Umso erstaun­li­cher ist die­se Viel­zahl an Abspal­tun­gen von alten Impe­ri­en, da die ter­ri­to­ria­le Inte­gri­tät von bestehen­den Staa­ten in aller Regel mehr Gewicht hat als „ein offen­si­ves Selbst­be­stim­mungs­recht“ der Völ­ker. Selbst wenn Bevöl­ke­rungs­grup­pen einen eige­nen Staat grün­den wol­len, schei­tert das häu­fig an feh­len­den inter­na­tio­na­len Part­nern, die im „Zwei­fels­fall“ die „Sta­bi­li­tät der Staa­ten und der uni­ver­sel­len Frie­dens­ord­nung dem Recht auf Sezes­si­on“ vorziehen.

Ein Staat kann jedoch erst ein Staat wer­den, wenn er durch ande­re Staa­ten aner­kannt wird. Die­se Hür­de ist des­we­gen so schwer zu neh­men, weil zum Bei­spiel Spa­ni­en den Sezes­sio­nen in ande­ren Welt­re­gio­nen aus Sor­ge vor einer Abspal­tung Kata­lo­ni­ens nicht zustim­men wird. Ähn­li­ches lie­ße sich über Groß­bri­tan­ni­en mit Schott­land und Ita­li­en mit Süd­ti­rol sagen.

Sich auf die Ver­ein­ten Natio­nen zu beru­fen, hilft auch sel­ten wei­ter. Die Ver­ein­ten Natio­nen benen­nen die jewei­li­gen Staa­ten als „Trä­ger“ der Völ­ker. Was aber dann tun, wenn die Völ­ker nicht Teil die­ser Staa­ten sein wol­len? Eine Sezes­si­on sei in die­sen Fäl­len nur mög­lich unter Wah­rung des Gewalt­ver­zichts, erklärt Grosch. Wie aber soll dann das Volk gegen das Gewalt­mo­no­pol des Staa­tes das eige­ne Anlie­gen der Abspal­tung fak­tisch durchsetzen?

Ein all­ge­mein aner­kann­tes Refe­ren­dum, dem aller­dings die­ser Staat zustim­men muß, dürf­te die ein­zi­ge Mög­lich­keit sein. „Zum ande­ren gilt es, eine Ver­ant­wor­tung gegen­über der frü­he­ren Gemein­schaft, also dem Rest­staat, zu über­neh­men, bei­spiels­wei­se in Form einer fai­ren Auf­tei­lung der Staats­schul­den oder ande­rer gemein­sa­mer inter­na­tio­na­ler Ver­pflich­tun­gen. Zu ver­mei­den ist jeden­falls ein Aus­tritt aus dem bis­he­ri­gen Staats­we­sen, der qua­si ‚ver­brann­te Erde‘ hin­ter­lässt“, so Grosch.

Die Meß­lat­te liegt folg­lich sehr hoch. Selbst jene Völ­ker bzw. abspal­tungs­wil­li­gen Bevöl­ke­rungs­grup­pen, die sie über­sprun­gen haben, schei­ter­ten häu­fig an der Orga­ni­sa­ti­on des neu­en Staa­tes. Die Geschich­te der Sezes­sio­nen, so wird im Lau­fe des Buches über­deut­lich, ist also kei­nes­falls eine Erfolgs­ge­schich­te. Vie­le der Sezes­sio­nen haben geschei­ter­te Staa­ten (fai­led sta­tes) her­vor­ge­bracht.

Für Kon­ser­va­ti­ve ist die­se Fest­stel­lung mit eini­gen Her­aus­for­de­run­gen ver­bun­den. Grosch führt aus: „Die Mehr­heit sezes­sio­nis­ti­scher Kon­flik­te hat dabei einen eth­ni­schen Hin­ter­grund, die Tren­nungs­li­nie der Grup­pen in einem Staat ver­läuft also meist ent­lang der Gren­zen der Eth­ni­en, die sich wie­der­um durch Abstam­mung, Spra­che oder Kul­tur defi­nie­ren.“ Kon­ser­va­ti­ve dürf­ten dazu nei­gen, die­se eth­ni­schen Gren­zen als Staats­gren­zen der Nati­on fest­schrei­ben zu wollen.

Was aber nun, wenn gera­de dadurch hand­lungs­un­fä­hi­ge Staa­ten ent­ste­hen, die dann der Ideo­lo­gie des Glo­ba­lis­mus schutz­los aus­ge­lie­fert sind? Der Mikro­na­tio­na­lis­mus in Euro­pa ist unter die­sem Gesichts­punkt ein ambi­va­lent zu betrach­ten­des Phä­no­men. Wenn sich Kata­lo­ni­en, Schott­land etc. zwar von ihren Natio­nal­staa­ten abspal­ten wol­len, zugleich jedoch unbe­dingt eine Mit­glied­schaft in der Euro­päi­schen Uni­on anstre­ben, ist wenig bis nichts gewonnen.

Mar­tin Grosch: Sezes­sio­nen. Das erbit­ter­te Rin­gen um Unab­hän­gig­keit. Rein­bek 2024.