Von Lothar W. Pawliczak. Als Philosoph in der DDR erlangte Peter Ruben (1. Dezember 1933 bis 20. Oktober 2024) mit profunden Arbeiten zu Mechanik und Dialektik, zu Philosophiegeschichte und Einzelwissenschaften in den 1970er Jahren auch die Aufmerksamkeit im Westen, insbesondere dann mit seinem Ansatz für eine Philosophie der Arbeit, der auch in einem Sammelband seiner Aufsätze in Westdeutschland erschien (Dialektik und Arbeit der Philosophie. Köln 1978). In der DDR gab es nicht nur Ideologie, Peter Ruben war da in Sozialtheorie und Philosophie eine überragende, von den Parteiideologen allerdings immer schon kaum gelittene Größe.
Seine Wendung, sich auch mit akuten gesellschaftstheoretischen Fragen, mit den Entwicklungsproblemen des „realen Sozialismus“ zu befassen, wurden in der DDR dann auch schnell mit Sanktionen geahndet. Internationale Proteste bewahrten ihn nicht vor einem Lehr- und Publikationsverbot und einem faktischen Kontaktverbot. Er wurde in die innere Emigration gezwungen. Wer sich nicht von ihm distanzierte und weiter mit ihm traf, war verdächtig. Freunden aus Westdeutschland bzw. Westberlin wurde schließlich die Einreise in die DDR verboten.
Ende der 1970er und Anfang der 1980er Jahre war in der DDR und auch in Westdeutschland keinem Wissenschaftler vom Fach der Name Peter Ruben unbekannt, aber die ihm auferlegte Isolierung wirkte: damnatio memoriae. Er selbst hat seinen gesellschaftstheoretischen Ansatz in der Stille weiterentwickelt. „Mit fliegenden Fahnen zu Schumpeter“ wechselnd adaptierte er dessen Unterscheidung von ökonomischen Wachstum und Entwicklung sowie die Interpretation der Theorie der langen Wellen von Nikolai Dmitrijewitsch Kondratjew. Mit der Unterscheidung von Gemeinschaft und Gesellschaft (vgl. Ferdinand Tönnies) entwickelte er ein dialektisches Grundverständnis jeglicher menschlicher Organisationsformen.
Erst nach 1989 konnte er seinen gesellschaftstheoretischen Ansatz in zahlreichen Aufsätzen publiziert entfalten. Seine Texte sind in vier Bänden gesammelt erneut erschienen: Peter Ruben: Gesammelte Philosophische Schriften (hg. von Ulrich Hedtke und Camilla Warnke in Verbindung mit Karl Benne). Eine preiswerte e‑Book-Ausgabe gibt es im Verlag WeltTrends Potsdam sowie zahlreiche Aufsätze als PDF.
Der philosophisch-methodische Ansatz
Mit Peter Ruben ist grundsätzlich festzuhalten: „Philosophische und empirische Untersuchungen sind voneinander qualitativ verschieden; sie konkurrieren daher nicht miteinander, wenngleich sie selbstverständlich zueinander ein bestimmtes Verhältnis eingehen. In jeder empirischen Analyse, gleichgültig ob relativ zur außermenschlichen oder menschlichen Natur realisiert, handelt es sich um die Voraussetzung sinnlich-gegenständlicher, experimentell prinzipiell manipulierbarer Objekte als Vorstellungsmittel für interessierende Eigenschaften und Beziehungen. In einer philosophischen Untersuchung hingegen bildet nicht der nach einer Eigenschaft vorgestellte Gegenstand, sondern das Verhältnis seiner Vorstellung zu seiner Realität unabhängig von dieser Vorstellung das eigentliche Untersuchungsproblem.“ (Von der Moralisierung zur Klassengesellschaft oder von der Klassengesellschaft zur Moralisierung?, in Bd. 2, S. 44)
Die Kritik der Nationalökonomie von Friedrich Engels (1844), ebenso später Marx‘ Kritik der politischen Ökonomie (1864) hat aber eine „vollständig außerwissenschaftliche Quelle“ (Was bleibt von Marx‘ ökonomischer Theorie?, in Bd. 2, 387), nämlich die „des moralischen Protests gegen die sozialökonomischen Folgen der industriellen Revolution für die Arbeiterschaft und zwar namens der kommunistischen Idee wahrer Gemeinschaftlichkeit oder der ‚klassenlosen Gesellschaft‘“ (ebd., S. 386). Kann eine ökonomische Theorie auf moralischem Protest aufbauen? Peter Rubens Antwort ist klar: Nein!
Die Philosophie der Arbeit
Peter Ruben machte Ernst mit dem Anspruch der marxistischen Philosophie[1], eine Philosophie der Arbeit zu sein: „Nicht aus der Voraussetzung des Verstandes erwächst die Arbeit, sondern aus der Voraussetzung der Arbeit wird der Verstand erzeugt.“ Damit „entfällt dann aber auch die Idee von der Arbeit, ein ‚geplanter Eingriff‘ zu sein […]. Die wirkliche Arbeit ist immer reicher als jede noch so detaillierte Planung ihres Vollzugs sein kann.“ (Wissenschaft als allgemeine Arbeit, in Bd. 1, S. 510f)
Seine Deutung der Arbeit musste die DDR-Dogmatiker alarmieren, denn ins Praktisch-Politische übersetzt meint das: Wer die hehre Idee von sozialer Gleichheit als einzig „wahren Sozialismus“ präsentiert, wer den gedachten Plan für die wesentliche Voraussetzung der Arbeit hält, ignoriert die Bedingungen seiner Realisierbarkeit und muß sich in der Realität regelmäßig blamieren. Eine Zentralplanwirtschaft ist nicht durchführbar – man erinnere sich an das von Ludwig von Mises stetig wiederholte Wort, eine zentral geplante Gemeinwirtschaft ist „undurchführbar“.
Der wirtschaftswissenschaftliche Ansatz
„Die Ökonomie ist als eine empirische Wissenschaft wie die Physik auch zu betrachten. Ihre Vertreter studieren die sozial vermittelten Reproduktionsvorgänge menschlicher Gemeinschaften, denken und erkennen sie zunächst jenseits aller Moral.“ (Was bleibt von Marx‘ ökonomischer Theorie?, in Bd. 2, S. 387) Marx kritisiere die klassische Nationalökonomie, die die Gesellschaft als „wechselseitige échangées“ (Destutt de Tracy) versteht, aber Peter Ruben fragte: Wie „kann Marx im Verkauf den Ankauf übersehen? Warum erkennt er im Aufgeben das Einnehmen nicht?“ (ebd. S. 389) Wieso ist ihm „der Austausch […] permanente Übervorteilung wenigstens in der Intention der Tauschenden“ (ebd.)?
Erst mit dem Austausch wird das Produkt für andere realisiert, seine Bewegung zur Konsumtion hin sozial vollendet, von anderen als nützlich anerkannt. „Gegen Marx‘ Deutung des Handels als der Realisierung der Entfremdung muß natürlich festgestellt werden, daß mit der Aufnahme regelmäßiger Tauschkontakte die entsprechenden Gemeinschaften aufhören, gegeneinander fremd zu sein, vielmehr unter Anerkennung ihrer Verschiedenheit neue eigene Bedürfnisse mit fremden Produkten deshalb befriedigen, weil sie eigene Produkte für fremde Bedürfnisse präsentieren können. Statt die Entfremdung zu setzen, hebt der Handel umgekehrt die vorausgesetzte Fremdheit gerade auf.“ (Gemeinschaft und Gesellschaft – erneut betrachtet, in Bd. 2, S. 268f) Handel ist nicht Entfremdung, sondern Vergesellschaftung. Von der Marxschen Entfremdungstheorie bleibt dann wohl nichts.
Grundlegend bestimmt Ruben Ökonomie als messende Wissenschaft unter Bezugnahme auf András Bródys Rekonstruktion der Marxschen Werttheorie. Der hat mit seinem Versuch einer Rekonstruktion der Marxschen Werttheorie geklärt, daß Arbeit die Dimension eines Wertstroms hat. Allerdings hat Bródy dabei die ökonomischen Zeitarten nicht zum Thema der Betrachtung gemacht. Arbeitszeit (tA), Produktionszeit (tP), Zirkulationszeit (tZ) und Umsatz- oder Zyklusdauer (tU) sind zu unterscheiden. Ruben stellt eine Wertbestimmung vor basierend „auf der Annahme, daß das ökonomische Maßesystem von drei Dimensionen Gebrauch macht, die nicht durch Definition, sondern durch Grundmeßverfahren bestimmt sind: der artbestimmte Nutzen oder Gebrauchswert [Ni], die konkret gebildete Arbeitskraft [Ki] und die Produktionsdauer[tP].“ (Vom Problem der ökonomischen Messung und seiner möglichen Lösung, Bd. 2, S. 359)
In seinem umfangreichen Werk Business Cycles (2 Bde. New York 1939) analysierte Schumpeter, wie der Entwicklungsprozeß als Entstehung von Neuem historisch vor sich geht: In zyklisch auftretenden Rezessions- und Depressionsphasen werden nicht mehr konkurrenzfähige Unternehmen vom Markt gedrängt und neue setzen sich durch. Peter Ruben hat diese Schwingungen im Sinne des physikalisches Systemmodells gedeutet (Vom Kondratieff-Zyklus und seinem Erklärungspotential, in Bd. 2, 634–655 und Wirtschaftsentwicklung und Marxsche Formationslehre, in Bd. 2, S. 308–335).
Das Weltwirtschaftsystem schwinge mit einer Grundfrequenz, dem Kondratieff-Zyklus, und drei Oberschwingungen, deren Frequenzen ganzzahlige Vielfache der Grundschwingung sind, und mindestens einer Unterschwingung von 220 Jahren. Einer Idee von Fernand Braudel folgend läßt sich annehmen, daß dem als anthropologische Konstante die Generationsdauer zugrundeliegt und – so Rubens Deutung – der Kondratieff-Zyklus die Dauer zweier Generationen (55 Jahre) ist. Der Konjunkturzyklus von 1843 bis 1897, den Ruben den „bürgerlichen Kondratieff“ nennt, kann als Maß wirtschaftlicher und historischer Entwicklung – als ökonomisches Etalon der Geschichte – aufgefaßt werden.
Sozialismus oder Kommunismus: Herrschaft der Apparatschiks ist innovationsfeindlich
Die kommunistische Machtübernahme im November 1917 und folgend in allen Ländern des sowjetischen Machtbereichs wollte die Gesellschaft durch die „wirkliche Gemeinschaft“, repräsentiert durch den kommunistisch geleiteten Staat, ersetzen. Mit der Machtübernahme sei die Ausbeutung beendet. Tatsächlich aber wird die Person unter die Herrschaft des Apparates gezwungen.
Fundamental für das Verständnis der Frage nach den Ursachen des schließlichen Untergangs kommunistischer Parteiherrschaft ist für Ruben der duale Gegensatz von Gemeinschaft und Gesellschaft: Der russisch dominierte Kommunismus ist „die Restauration der Gemeinschaft gegen die Gesellschaft“ (Gemeinschaft und Gesellschaft – erneut betrachtet, in Bd. 2, S. 267), der Versuch, den ökonomischen Verkehr (Austausch) durch die zentralstaatliche Verteilung (Distribution) zu ersetzen. Gegen den Weltmarkt und gegen die ökonomischen Gesetze mit Staatsplanwirtschaft dauerhaft bestehen zu wollen, ist aber eine Illusion.
Der „reale Sozialismus“ ist nicht nur am Versuch gescheitert, den Markt durch den Plan ersetzen, weil der Markt praktisch nicht abzuschaffen ist. Staatsplanwirtschaft ist innovationsfeindlich, weil jede Neuerung eine Rebellion gegen den Plan ist. Die Geschichte hat das Urteil gefällt: Der „reale Sozialismus“ ist an mangelnder Innovationsfähigkeit gescheitert. Ein staatsplanwirtschaftliches System ist auf dem Weltmarkt nicht hinreichend wettbewerbsfähig.
Der Platz der DDR in der deutschen Geschichte
Die Gründung der DDR ist eine historische Wegmarke, die kommunistische Antwort auf den Ausgang des Zweiten Weltkrieges im sowjetisch besetzten Teil Deutschlands. Zugleich ordnete Ruben dies in die in den 1930er Jahren beginnende Konjunkturphase ein, die mit dem Krisentiefpunkt 1989/90 endete (Über den Platz der DDR in der deutschen Geschichte, in Bd. 2, S. 426–515). Der Aufstieg des Sowjetimperiums ab den 1930er Jahren, die Ausdehnung der Sowjetherrschaft auf Osteuropa und schließlich der Untergang dieses Imperiums kann mit der Konjunkturtheorie als Aufschwungs- und darauf folgende Niedergangsphase verstanden werden.
Inspiriert von Rubens origineller Methode der Geschichtsbetrachtung, in der die tabellarische Aufbereitung der DDR-Geschichte hervorsticht (ebd., S. 449–515), stellt sich die Frage, ob wir bis etwa 2016 die Aufschwungphase eines neuen, etwa 55jährigen Zyklus erlebten, und ob zu den Tiefpunkten in Politik und Wirtschaft in der aktuellen Abschwungphase auch der Ukrainekrieg und die Neuordnung des Weltsystems einzuordnen sind.
[1] Später distanzierte sich Peter Ruben von Marxismus und marxistisch: Es ist marxistisch eine „wesentlich durch Engels begründete Parteimeinung“ (Was bleibt von Marx‘ ökonomischer Theorie? Ruben Werke Bd. 2, 385, Fußnote 2; ebenso Grenzen der Gemeinschaft. Bd. 2, 552, Fußnote 3). Und Lenins Position, es gäbe zwischen bürgerlicher und sozialistischer Ideologie kein Mittelding, bietet „die Möglichkeit, die Wissenschaft von der Ideologie unterwerfen zu lassen, den Generalsekretär zum Verlautbarer der Wahrheit zu machen.“ (Von der Philosophie und dem deutschen Kommunismus. Ein Blick in die Vorgeschichte der DDR-Philosophie. Bd. 4, 117)