Verein Journalismus und Wissenschaft

Nationales Recht gegen globale Rechtlosigkeit: Die Macht der Anwälte

Adam Smith (1723–1790) ging sei­ner­zeit davon aus, daß es sinn­voll ist, „sein Kapi­tal mög­lichst in sei­ner Nähe zu beschäf­ti­gen und infol­ge­des­sen es soweit wie mög­lich mög­lich zur För­de­rung hei­mi­scher Erwerbs­tä­tig­keit zu ver­wen­den“. Smith begrün­de­te die­se Ver­mu­tung mit der bes­se­ren Kennt­nis der cha­rak­ter­li­chen Vor­zü­ge sei­ner Lands­leu­te und der bes­se­ren Kennt­nis der eige­nen Rechtsordnung.

In der Frem­de dage­gen lau­fe man Gefahr, die Spiel­re­geln des dor­ti­gen Mark­tes ver­se­hent­lich zu bre­chen. Zudem stel­len die kul­tu­rel­len Eigen­hei­ten der Arbeit­neh­mer – genau­so wie der poten­ti­el­len Käu­fer – unbe­kann­te Varia­blen dar, die womög­lich zu einem wirt­schaft­li­chen Miß­er­folg führen.

Die­se Argu­men­ta­ti­on von Smith wirkt noch heu­te plau­si­bel und sie trifft auch auf vie­le klei­ne und mitt­le­re Unter­neh­mer wei­ter­hin zu, die nur begrenz­te Res­sour­cen haben, um sich auf die Wag­nis­se in aus­län­di­schen Märk­ten vorzubereiten.

Den­noch, so erklärt es die Jura-Pro­fes­so­rin Katha­ri­na Pis­tor in ihrem Buch Der Code des Kapi­tals (2020), haben sich die Rah­men­be­din­gun­gen für Groß­un­ter­neh­men seit Adam Smith um 180 Grad gedreht. Pis­tor, gebo­ren in Frei­burg und heu­te Direk­to­rin des Zen­trums für glo­ba­le recht­li­che Trans­for­ma­ti­on an der Colum­bia Uni­ver­si­ty in New York, erklärt dazu ein­füh­rend: „Die heu­ti­gen Unter­neh­men müs­sen nicht mehr in ihrer Hei­mat ‚ihr Recht suchen‘, und das Schick­sal ihres Ver­mö­gens ist auch nicht mehr an die Gemein­schaf­ten gebun­den, die sie zurück­las­sen. Viel­mehr kön­nen sie sich unter vie­len Rechts­ord­nun­gen die­je­ni­ge aus­su­chen, die sie bevor­zu­gen, und deren Vor­zü­ge genie­ßen, auch ohne sich selbst, ihr Geschäft, ihre Waren oder Ver­mö­gens­wer­te phy­sisch in den Staat zu ver­brin­gen, des­sen Recht sie für die Codie­rung benutzen.“

Die Mög­lich­keit, sich als Unter­neh­men den eige­nen Rechts­rah­men aus­su­chen zu kön­nen, begreift Pis­tor als Con­di­tio sine qua non des glo­ba­len Kapi­ta­lis­mus. Sie befeu­ert den glo­ba­len Han­del, die Inter­na­tio­na­li­sie­rung von Unter­neh­men und vor allem das glo­ba­le Finanz­we­sen. Glo­ba­ler Kapi­ta­lis­mus mit einem gemein­sa­men Rechts­rah­men wür­de indes auf einen ein­zu­rich­ten­den Welt­staat hin­aus­lau­fen. Inso­fern ste­hen wir vor der Wahl: Wei­test­ge­hend recht­li­che Anar­chie und glo­ba­ler Kapi­ta­lis­mus oder eine Rück­kehr zu klei­ne­ren öko­no­mi­schen und poli­ti­schen Ein­hei­ten, die aber vie­le Unter­neh­men zunächst mas­siv aus­brem­sen würden.

Bevor man hier aus patrio­ti­scher Sicht über­stürzt ein „Zurück“ for­dert, muß man sich jedoch ver­ge­gen­wär­ti­gen, was das Recht leis­ten soll. Pis­tor defi­niert es als eine „mäch­ti­ge Tech­no­lo­gie“, die „jahr­hun­der­te­lang“ Anwen­dung fand, um „über enge Gemein­schaf­ten hin­aus­ge­hen­de sozia­le Bezie­hun­gen zu erwei­tern und Frem­den zu ver­si­chern, dass sie es ris­kie­ren kön­nen, mit­ein­an­der Geschäf­te in Mil­li­ar­den­hö­he zu täti­gen, ohne sich jemals von Ange­sicht zu Ange­sicht gegen­über­tre­ten zu müs­sen“. Das erin­nert an die Gren­zen der Gemein­schaft (1924) von Hel­muth Pless­ner, der auf Fer­di­nand Tön­nies (Gemein­schaft und Gesell­schaft, 1887) erwi­der­te, bei aller Lie­be zur Gemein­schaft brau­che es die Gesell­schaft, in der durch Abstand eine Befrie­dung sonst zwi­schen­mensch­lich eska­lie­ren­der Kon­flik­te ver­mie­den werde.

Etwas pla­ka­tiv aus­ge­drückt: Nur weil es Kfz-Ver­si­che­run­gen gibt, muss ich nach einem Auto­un­fall eine Ent­schä­di­gung nicht hand­greif­lich durch­set­zen, son­dern kann mich dar­auf ver­las­sen, daß alles sei­nen geord­ne­ten Gang geht. Grö­ßer gedacht: Wir soll­ten froh sein, unser Ver­mö­gen in anony­me Kon­zer­ne zu inves­tie­ren. Wür­den wir es unse­rem Nach­barn geben, der dann sein Unter­neh­men in den Sand setzt, wür­den wir ihn ver­mut­lich erschla­gen, weil er unser gesam­tes Geld ver­nich­tet hat. Auch der Erfolgs­fall birgt selbst­ver­ständ­lich Spreng­stoff: Wer sei­nem Nach­barn 100.000 Euro anver­traut, der dar­aus ein Mil­lio­nen­ver­mö­gen für sich selbst macht und nur zehn Pro­zent vom Gewinn an die Inves­to­ren abgibt, ist mit gro­ßer Wahr­schein­lich­keit äußerst nei­disch und hät­te sich einen grö­ße­ren Anteil vom Gewinn gewünscht. Der Nach­bar konn­te schließ­lich nur so erfolg­reich wer­den, weil ich ihm mei­ne Erspar­nis­se tem­po­rär über­las­sen habe.

Die­se Gedan­ken­spie­le zei­gen: Wirt­schaft läßt sich nicht gemein­schaft­lich orga­ni­sie­ren. Hier ent­steht Ver­trau­en erst durch den not­wen­di­gen gesell­schaft­li­chen Abstand. Die Auf­ga­be des Rechts ist es, die­ses Ver­trau­en auf Dau­er zu stel­len. Para­dox wird die Ange­le­gen­heit aller­dings dadurch, daß sich das Kapi­tal in rechts­frei­en Räu­men am bes­ten ent­fal­ten kann und daher die Eigen­tü­mer bewußt nach die­sen Räu­men suchen. Genau dar­über denkt Pis­tor in ihrem Buch nach.

Sie nimmt dazu eine Unter­schei­dung zwi­schen der Sitz­theo­rie und der Grün­dungs­theo­rie vor. Natür­li­che Per­so­nen sind der Sitz­theo­rie unter­wor­fen. Sie müs­sen sich an das Recht ihres Geburts- bzw. Wohn­or­tes hal­ten. Nur durch Visa, einen neu­en Pass oder dau­er­haf­te Auf­ent­halts­ge­neh­mi­gun­gen kön­nen sie sich in frem­den Gefil­den bewe­gen. Vie­le Staa­ten setz­ten lan­ge eben­falls auf die Sitz­theo­rie für Unter­neh­men. Groß­bri­tan­ni­en und die USA gehör­ten hin­ge­gen seit eh und je zu jener Grup­pe, die auf die Grün­dungs­theo­rie setz­ten. Sie legt fest, daß im Gesell­schafts­recht die Vor­schrif­ten des Grün­dungs­or­tes des Unter­neh­mens zu befol­gen sind. In der Pra­xis ist das bis­wei­len sehr schwie­rig, wes­halb es soge­nann­te „Kol­li­si­ons­nor­men“ bzw. „inter­na­tio­na­les Pri­vat­recht“ gibt. Sie klä­ren, „wel­ches Recht anzu­wen­den ist, wenn mehr als eine Juris­dik­ti­on berührt wird“. Unter­neh­men wird dadurch eine „Rech­te-Shop­ping“ ermög­licht, kri­ti­siert Pistor.

In Euro­pa wur­de die Anwen­dung der Sitz­theo­rie, die den Natio­nal­staa­ten Macht gab, um durch­zu­grei­fen, Ende der 1990er-Jah­re durch eine Rei­he von Urtei­len des Euro­päi­schen Gerichts­hofs „fast voll­stän­dig abge­schafft“. Zur Begrün­dung hieß es, sie wider­spre­che der im Maas­tricht-Ver­trag von 1992 fest­ge­leg­ten Libe­ra­li­sie­rung des Kapi­tal­ver­kehrs. Selbst bei Pis­tor fin­det man das übri­gens nur, wenn man sich durch die Fuß­no­ten quält. In der brei­ten Öffent­lich­keit dürf­ten die­se Fak­ten indes gänz­lich unbe­kannt sein.

Die Kon­se­quen­zen der Anwen­dung der Grün­dungs­theo­rie im Gesell­schafts­recht könn­ten kaum weit­rei­chen­der sein. Dies beginnt bei Mög­lich­kei­ten der Ver­lust­ver­schie­bung. Erfolg­reich ist im glo­ba­len Kapi­ta­lis­mus, wer in Wachs­tums­pha­sen Gewin­ne mit­nimmt und dann sein Ver­mö­gen abschirmt, damit Ver­lus­te ande­re tra­gen müs­sen. Eben­so liegt es an der Grün­dungs­theo­rie, dass glo­ba­le Kon­zer­ne kaum Steu­ern zah­len müs­sen, wäh­rend der hei­mat­ge­bun­de­ne Mit­tel­stand wie eine Zitro­ne aus­ge­quetscht wird. Pis­tor dazu: „Die meis­ten nor­ma­len Men­schen kön­nen sich ihren eige­nen Steu­er­satz nicht aus­su­chen; sie kön­nen zwar ihre Gut­ha­ben auf aus­län­di­sche Bank­kon­ten ver­la­gern, müs­sen aber befürch­ten, dass selbst die strengs­ten gesetz­li­chen Vor­schrif­ten zum Bank­ge­heim­nis geknackt wer­den und dass sie wegen Steu­er­hin­ter­zie­hung straf­recht­lich ver­folgt wer­den. Für Kapi­tal­ge­sell­schaf­ten ist es dage­gen viel ein­fa­cher, sich für den Steu­er­satz zu ent­schei­den, den sie zah­len wol­len: Sie kön­nen ein­fach eine juris­ti­sche Per­son in einer Juris­dik­ti­on mit einem nied­ri­gen Steu­er­satz grün­den und das zu ver­steu­ern­de Ein­kom­men auf deren Kon­to ver­bu­chen.“ So käme es, dass Apple in Euro­pa effek­tiv nur ein bis fünf Pro­zent an Steu­ern zah­len müs­se, „obwohl der Steu­er­satz über­all in der Uni­on nahe bei 20 Pro­zent“ liegt.

Katha­ri­na Pis­tor legt in ihrem Buch über­zeu­gend die ste­ti­ge Imma­te­ria­li­sie­rung des Eigen­tums dar. Im 19. Jahr­hun­dert war Eigen­tum noch an Land, Häu­ser und Fabri­ken gebun­den. Damit gab es eine Ver­or­tung und Hand­ha­be für Staa­ten zur Kon­trol­le der Wirt­schaft. Die Imma­te­ria­li­sie­rung bedeu­tet nun nicht etwa nur, daß dar­aus digi­ta­le Dienst­leis­tun­gen und Paten­te – etwa für Medi­ka­men­te – gewor­den sind. Sie bedeu­ten den Über­gang der Sach­gü­ter in kniff­li­ge Ver­trä­ge. Dar­über wachen eini­ge weni­ge, haupt­säch­lich ame­ri­ka­ni­sche Anwalts­fir­men, die dadurch den „Code des Kapi­tals“ fort­schrei­ben kön­nen. Fran­zö­si­sche und deut­sche Kanz­lei­en schaf­fen es nur in die­sen eli­tä­ren Club, wenn sie sich den ame­ri­ka­ni­schen Rechts­vor­stel­lun­gen unter­wer­fen, schreibt Pis­tor. Ihre Lösungs­vor­schlä­ge blei­ben jedoch vage. Die Staa­ten soll­ten den Unter­neh­men die „Wahl der Rechts­ord­nung“ erschwe­ren – also zur Sitz­theo­rie zurück­keh­ren. Die Euro­päi­sche Uni­on in ihrer aktu­el­len Form wäre dann übri­gens Geschich­te, muß hier ergänzt wer­den. Und der glo­ba­le Kapi­ta­lis­mus auch. Haben wir so viel Fan­ta­sie, um uns die Welt nach die­sem Schritt vor­stel­len zu kön­nen? Pis­tor hat sie lei­der nicht. Es liegt also an uns, sie auszumalen.

Die­ser Bei­trag erschien zuerst in Recher­che D, Heft 21 (März 2024), mit dem Schwer­punkt »Eigen­tum«. Hier bestel­len!