Verein Journalismus und Wissenschaft

Nomos der Erde

In Zei­ten gro­ßer Kri­sen rückt die Fra­ge nach dem Fun­da­ment der inter­na­tio­na­len Ord­nung in den Mit­tel­punkt. Soll­ten Staa­ten und Unter­neh­men nach dem Grund­satz „Geschäft ist Geschäft, und Moral ist Moral“ agie­ren oder „Wan­del durch Han­del“ anstreben?

NATO-Gene­ral­se­kre­tär Jens Stol­ten­berg präg­te unter dem Ein­druck des Kriegs in der Ukrai­ne die wider­sprüch­li­che For­mel: „Frei­heit ist wich­ti­ger als Frei­han­del.“ Denn der „Schutz unse­rer Wer­te“ müs­se Prio­ri­tät vor Pro­fit­in­ter­es­sen genie­ßen. Frap­pie­rend an der­lei Beschwö­run­gen ist, daß sowohl die Zeit- als auch die Raum­di­men­si­on inter­na­tio­na­ler Bezie­hun­gen uner­wähnt blei­ben. Wird eine Fabrik am ande­ren Ende der Welt gebaut, so ist die­ses Inves­ti­ti­ons­pro­jekt auf eini­ge Jahr­zehn­te ange­legt und kann kei­ne Rück­sicht auf kurz­fris­ti­ge poli­ti­sche Umbrü­che nehmen.

Zum Ver­ständ­nis der Raum­di­men­si­on hat indes Carl Schmitt mit Der Nomos der Erde im Völ­ker­recht des Jus Publi­cum Euro­pae­um im Jahr 1950 eine abso­lu­te Pflicht­lek­tü­re gelie­fert, die heu­te zur Wie­der­vor­la­ge emp­foh­len sei. Mit „Nomos“ ver­wies der wohl bedeu­tends­te deut­sche Staats­recht­ler des 20. Jahr­hun­derts auf den engen Zusam­men­hang von Recht, Ord­nung und Ortung.

In der Moder­ne haben jedoch die­je­ni­gen die Ober­hand gewon­nen, die glau­ben, man kön­ne den Raum bei der Kon­struk­ti­on einer funk­tio­nie­ren­den inter­na­tio­na­len Ord­nung ver­nach­läs­si­gen. Schmitt warn­te davor und sah weit­sich­tig, daß an die Stel­le des Raums die Moral tre­te. Statt Ein­fluß­sphä­ren abzu­gren­zen, neigt die Poli­tik dazu, Staa­ten in „gut“ und „böse“ auf­zu­tei­len. Durch die­se Ideo­lo­gi­sie­rung ent­ste­hen zwangs­läu­fig neue, zusätz­li­che Konflikte.

Das Ziel aller Ord­nungs­be­mü­hun­gen über Staats­gren­zen hin­weg müs­se es sein, den Krieg ein­zu­he­gen. Dies beton­te Schmitt immer wie­der, weil er eine Abschaf­fung des Krie­ges, wie von Pazi­fis­ten mit mora­lisch sicher­lich guten Absich­ten gewünscht, nie­mals rea­li­sier­bar sein dürf­te. Statt des­sen müs­se es dar­um gehen, Ver­nich­tungs­krie­ge zu ver­hin­dern und einen Rah­men zu set­zen, so daß ein Volk nach einer mili­tä­ri­schen Nie­der­la­ge wei­ter­exis­tie­ren kön­ne. Krie­ge soll­ten des­halb das sozia­le und wirt­schaft­li­che Sys­tem trotz des Sie­ges einer Par­tei unbe­rührt las­sen. Alle Rufe nach einem „Regime Chan­ge“ nach einem Sieg oder schon wäh­rend eines Krie­ges, wie es aktu­ell der Fall ist, miß­ach­ten die­sen Grund­satz. Zuge­spitzt lie­ße sich eher for­mu­lie­ren: Wer den Krieg ein­he­gen will, soll­te sich auf die mili­tä­ri­sche Ver­tei­di­gung kon­zen­trie­ren. Der Krieg muss auf dem Schlacht­feld eine Ange­le­gen­heit pro­fes­sio­nel­ler Sol­da­ten blei­ben. Sobald er gan­ze Gesell­schaf­ten mit­samt der Öffent­lich­keit und Wirt­schaft infil­triert, wird er in sei­ner Trag­wei­te unkontrollierbar.

Schmitt glaub­te, daß das euro­päi­sche Völ­ker­recht nach dem West­fä­li­schen Frie­den (1648) bis zum Ers­ten Welt­krieg halb­wegs nach den von ihm favo­ri­sier­ten Prin­zi­pi­en arbei­te­te. Der His­to­ri­ker Rolf Peter Sie­fer­le unter­streicht die­se The­se in Krieg und Zivi­li­sa­ti­on: „Die Zivil­be­völ­ke­rung soll­te vor wil­den Requi­rie­run­gen geschützt wer­den, damit ihre regu­lä­re Wirt­schafts- und Steu­er­kraft nicht Scha­den nahm.“ Ihr Bei­trag zum Krieg wur­de bewußt auf die Finan­zie­rung der Hee­re beschränkt. Für die Zivi­lis­ten galt also: „Ruhe ist die ers­te Bür­ger­pflicht.“ Somit ergab sich, daß der Bür­ger „per defi­ni­tio­nem Pazi­fist“ war, meint Sie­fer­le, denn „er blieb von der krie­ge­ri­schen Ehre aus­ge­schlos­sen“. Die Kehr­sei­te die­ser Medail­le: Die aris­to­kra­tisch gepräg­ten Armeen dege­ne­rier­ten zur „Ver­sor­gungs­in­sti­tu­ti­on für Adli­ge, die dadurch vor dem Ruin bewahrt wurden“.

Schon 1789 setz­te mit der Fran­zö­si­schen Revo­lu­ti­on aller­dings eine Ideo­lo­gi­sie­rung des Krie­ges ein. Mit ihr ver­bun­den war die Geburt des „tota­len Krie­ges“, der die Zivil­be­völ­ke­rung ein­be­zog, und eine Mora­li­sie­rung, die das Böse ver­nich­ten woll­te. Bevor die­se lang­sa­men, tek­to­ni­schen Ver­schie­bun­gen im Ideen­ge­fü­ge in ihrer gan­zen Bru­ta­li­tät sicht­bar wur­den, kam es in Euro­pa zunächst aber zu einem „hun­dert­jäh­ri­gen Frie­den“ (Karl Pol­anyi) zwi­schen 1815 und 1914, der ein­her­ging mit einer impe­ria­lis­ti­schen Glo­ba­li­sie­rung, dem neu­en „Pro­blem einer per­ma­nen­ten Rebel­li­ons­dro­hung von unten“ (Sie­fer­le) und der Indus­tria­li­sie­rung, die den Krieg einer­seits tech­nisch-büro­kra­ti­scher mach­te und ande­rer­seits eine flä­chen­mä­ßi­ge Aus­wei­tung der Kampf­hand­lun­gen beförderte.

Um sich nicht in die­sen Sog hin­ein­zie­hen zu las­sen, bedür­fe es zunächst einer nüch­ter­nen Defi­ni­ti­on des Völ­ker­rechts. Carl Schmitt führt dazu aus: „Völ­ker­recht ist Land­nah­me, Städ­te­bau und Befes­ti­gung, Krie­ge, Gefan­gen­schaft, Unfrei­heit, Rück­kehr aus der Gefan­gen­schaft, Bünd­nis­se und Frie­dens­schlüs­se, Waf­fen­still­stand, Unver­letz­lich­keit der Gesand­ten und Ehe­ver­bo­te mit Fremd­ge­bo­re­nen.“ Unter öko­no­mi­schen Gesichts­punk­ten wäre das Sub­ven­tio­nie­ren von klei­nen Riva­len zu ergän­zen, um grö­ße­re Riva­len zu schä­di­gen und in Kon­flik­te zu ver­wi­ckeln. So stütz­te etwa Eng­land Mit­te des 18. Jahr­hun­derts Preu­ßen mit finan­zi­el­len Zuwen­dun­gen, um Frank­reich in Schach zu hal­ten, kon­ti­nen­ta­le Rei­be­rei­en zu befeu­ern und in Ruhe selbst das eige­ne Welt­reich aus­bau­en zu kön­nen. Die­se Riva­li­tä­ten wur­den jedoch gewis­ser­ma­ßen inner­halb der euro­päi­schen Groß­fa­mi­lie aus­ge­tra­gen – ohne die Exis­tenz des ande­ren in Fra­ge zu stellen.

Eine Ord­nung basie­rend auf die­sen Prin­zi­pi­en habe sich seit dem Mit­tel­al­ter eta­bliert. Den euro­päi­schen Staa­ten war jedoch jeder­zeit klar, daß die­ser „Nomos“ nicht auf die gan­ze Welt aus­ge­dehnt wer­den dür­fe. Das euro­päi­sche Völ­ker­recht war nur für das christ­li­che Abend­land kon­zi­piert und ent­hielt eine stren­ge Unter­schei­dung zwi­schen der Aus­tra­gung von Riva­li­tä­ten in der eige­nen Hei­mat und „Krie­gen gegen nicht­christ­li­che Fürs­ten und Völ­ker“, die Euro­pa als Inva­so­ren von außen bedrohen.

In Der Nomos der Erde wies Schmitt auch dar­auf hin, daß die­ses Völ­ker­recht neben äuße­ren Gefah­ren, z.B. dem Auf­kom­men einer neu­en Super­macht wie den USA, von innen her­aus zer­stört wer­den kann. Er pro­ble­ma­ti­sier­te dabei ins­be­son­de­re den „Cäsa­ris­mus“ als eine „nicht-christ­li­che Macht­form“. Läßt eine Gesell­schaft ihren sitt­lich-kul­tu­rel­len Kern ver­küm­mern und glei­tet in Deka­denz ab, steht es auch um ihre Wehr­haf­tig­keit nicht mehr gut. Cäsa­ren nei­gen zudem zum Grö­ßen­wahn. Ihr Nar­ziß­mus läßt sie zum einen blind wer­den gegen­über ande­ren eben­falls legi­ti­men Wer­te­vor­stel­lun­gen und zum ande­ren führ­te er des Öfte­ren zur impe­ria­len Über­deh­nung, wodurch die Ein­heit von Ortung und Ord­nung zer­stört wird.

Schmitt beschreibt das euro­päi­sche Völ­ker­recht als ein wei­test­ge­hend anar­chi­sches, aber gera­de nicht recht­lo­ses Sys­tem, das nur Bestand haben kön­ne, wenn alle dar­an betei­lig­ten Herr­scher den Erhalt des gemein­sa­men Kul­tur­krei­ses anstre­ben. Kon­flik­te wer­den dann ledig­lich auf poli­tisch-mili­tä­ri­scher Ebe­ne unter mora­lisch eben­bür­ti­gen Geg­nern aus­ge­tra­gen. Ein Kern­punkt müs­se es des­halb sein, „die Begrif­fe Feind und Ver­bre­cher aus­ein­an­der zu halten“.

1789 brö­ckel­te die­ses Sys­tem lang­sam aus­ein­an­der. Schmitt schreibt dar­über: „Eine tra­gi­sche Iro­nie liegt dar­in, daß gera­de die­ser Cont­rat social Rous­se­aus mit sei­nem rein staat­li­chen Kriegs­be­griff zur Bibel der Jaco­bi­ner wur­de, eben der­sel­ben Jaco­bi­ner, die den klas­si­schen, rein mili­tä­ri­schen Staa­ten­krieg des 18. Jahr­hun­derts als Kabi­netts­krieg des anci­en régime dif­fa­mier­ten und die durch den Staat gelun­ge­ne Liqui­die­rung des Bür­ger­krie­ges und Hegung des Außen-Krie­ges als eine Ange­le­gen­heit der Tyran­nen und Des­po­ten ablehn­ten. Sie haben den rei­nen Staa­ten­krieg durch den Volks­krieg und die demo­kra­ti­sche levée en mas­se (Wehr­pflicht) ersetzt.“ Auch hier bie­tet sich wie­der­um eine Ergän­zung durch die Bril­le der Öko­no­men an: Es gelang, den Krieg durch eine strik­te Arbeits­tei­lung ein­zu­he­gen. Sobald die­se Arbeits­tei­lung auf­ge­weicht wird, fin­det eine Rück­ent­wick­lung zu tri­ba­lis­ti­schen Gesell­schaf­ten und Jäger­kul­tu­ren statt, in denen es kei­ne Tren­nung zwi­schen dem Oikos (Haus­halt) und dem Krieg gibt.

End­gül­tig zer­brach das alte euro­päi­sche Völ­ker­recht dann im Lau­fe des Ers­ten Welt­krie­ges. Der Ver­sailler Ver­trag doku­men­tier­te schließ­lich mit dem Kriegs­schuld­ar­ti­kel und den Repa­ra­ti­ons­zah­lun­gen den Vor­marsch der Moral und die Aus­deh­nung des Krie­ges auf die Eigen­tums­ver­hält­nis­se. Eine inter­na­tio­na­le Ord­nung, die Ord­nung bewahr­te, blieb zu die­sem Zeit­punkt in wei­ter Fer­ne. Der Völ­ker­bund war ein zahn­lo­ser Tiger und konn­te die ver­häng­nis­vol­le Ent­wick­lung bis zum Zwei­ten Welt­krieg weder brem­sen noch eindämmen.

Wäh­rend­des­sen erleb­te die Welt die Geburt einer neu­en Super­macht, deren Auf­stieg Schmitt auf her­aus­ra­gen­de Wei­se beschrieb. Bereits in der Zwi­schen­kriegs­zeit stell­te sich ihm zufol­ge die Fra­ge, „ob der Pla­net reif ist für das glo­ba­le Mono­pol einer ein­zi­gen Macht, oder ob ein Plu­ra­lis­mus in sich geord­ne­ter, koexis­tie­ren­der Groß­räu­me, Inter­ven­ti­ons­sphä­ren und Kul­tur­krei­se das neue Völ­ker­recht der Erde bestimmt“. Es sprach zunächst viel für das Plu­ri­ver­sum, weil es kei­ne Groß­macht gab, die einen Füh­rungs­an­spruch offen formulierte.

Die Ver­ei­nig­ten Staa­ten tra­ten mit einer „Mischung von offi­zi­el­ler Abwe­sen­heit und effek­ti­ver Anwe­sen­heit“ auf. In inter­na­tio­na­len Insti­tu­tio­nen Ver­ant­wor­tung zu über­neh­men, blieb ihnen bis in die 1920er-Jah­re hin­ein suspekt. Trotz­dem hat­ten sie die euro­päi­schen Mäch­te über Kre­di­te in der Hand und es bestand kein Zwei­fel mehr, daß sie sich im Zwei­fels­fall über­all auf der Welt mili­tä­risch ein­mi­schen könn­ten. Um das zu illus­trie­ren, zitiert Schmitt den ame­ri­ka­ni­schen Völ­ker­rechts­ju­ris­ten P.S. Jes­sup, der 1940 beton­te: „Die Dimen­sio­nen ändern sich heu­te schnell, und dem Inter­es­se, das wir 1860 an Cuba hat­ten, ent­spricht heu­te unser Inter­es­se an Hawaii; viel­leicht wird das Argu­ment der Selbst­ver­tei­di­gung dazu füh­ren, daß die Ver­ei­nig­ten Staa­ten eines Tages am Jang­tse, an der Wol­ga und am Kon­go Krieg füh­ren müssen.“

Dabei darf die­se Bereit­schaft zur mili­tä­ri­schen Inter­ven­ti­on nicht mit einem offen­si­ven Expan­si­ons­stre­ben ver­wech­selt wer­den. Schmitt folgt hier einer ande­ren Argu­men­ta­ti­on: Es sei gera­de der „ame­ri­ka­ni­sche Iso­la­ti­ons­ge­dan­ke“ gewe­sen, der lang­fris­tig zur Inter­ven­ti­on zwang. Mit der Grün­dung der USA sei eine „Aus­er­wählt­heits­li­nie“ gezo­gen wor­den. Die „Neue Welt“ hät­ten die Ame­ri­ka­ner als den Ort inter­pre­tiert, an dem ein Leben in Frie­den und Frei­heit im Gegen­satz zur rest­li­chen Welt mög­lich sei. Schmitt hört bereits aus der Mon­roe-Dok­trin (1823) ein „fun­da­men­ta­les mora­li­sches Ver­wer­fungs­ur­teil“ gegen­über Euro­pa heraus.

Die USA hät­ten die­ses mora­li­sche Über­le­gen­heits­ge­fühl zunächst als Mythos nach innen ver­brei­tet. Das änder­te sich erst, als „für die inne­re Lage der Ver­ei­nig­ten Staa­ten das Zeit­al­ter ihrer bis­he­ri­gen Neu­heit zu Ende gegan­gen“ war. Jedoch beweg­te sich die Außen­po­li­tik Ame­ri­kas selbst in den bei­den Welt­krie­gen „zwi­schen den bei­den Extre­men von Selbst-Iso­lie­rung und Welt-Intervention“.

Schmitt sah in die­sem Inter­ven­tio­nis­mus nicht nur auf­grund der Mora­li­sie­rung der Kriegs­grün­de ein Pro­blem. Viel­mehr ent­ste­he so zwangs­läu­fig ein glo­ba­ler Welt­bür­ger­krieg, da die Tren­nung zwi­schen „außen“ und „innen“ genau­so­we­nig wie loka­le Beson­der­hei­ten aner­kannt würden.

Zuerst erschie­nen in: Recher­che D, Heft 15 (The­ma: Wirtschaftskrieg)

Aktuelle Beiträge