Verein Journalismus und Wissenschaft

Propaganda ist überall!

Wer die Mecha­nis­men moder­ner Pro­pa­gan­da in Mas­sen­ge­sell­schaf­ten und die Ent­ste­hung der öffent­li­chen Mei­nung ver­ste­hen will, kann eine Rei­he von Klas­si­kern zu Rate zie­hen, die alle Erhel­len­des bei­zu­tra­gen haben.

Gust­ave Le Bon (Psy­cho­lo­gie der Mas­sen, 1895), Edward Ber­nays (Pro­pa­gan­da, 1928) und Eli­sa­beth Noel­le-Neu­mann (Schwei­ge­spi­ra­le, 1980) haben schlüs­sig erklärt, wie Men­schen aus Iso­la­ti­ons­furcht mit einem qua­si-sta­tis­ti­schen Sinn ver­su­chen, sich auf die Sei­te der Mehr­heit zu schla­gen. Die­se Mehr­heits­men­schen ver­lie­ren ihre indi­vi­du­el­len Eigen­schaf­ten und wer­den von einer rei­chen Eli­te mani­pu­la­tiv zu einem Kol­lek­tiv geformt, das ähn­li­che poli­ti­sche Ansich­ten und Kon­sum­ge­wohn­hei­ten annimmt.

Die­ser Grund­ge­dan­ke fin­det sich auch bei dem fran­zö­si­schen Sozio­lo­gen Jac­ques Ellul (1912–1994). Sein 1962 erst­mals erschie­ne­nes Werk über Pro­pa­gan­da, das 2021 end­lich auf deutsch über­setzt wur­de, über­ragt den­noch alle ande­ren Klas­si­ker auf die­sem Gebiet, weil es gründ­li­cher nach Ursa­chen, Bedin­gun­gen und psy­cho­lo­gi­schen Begleit­erschei­nun­gen der mas­sen­me­dia­len Dau­er­be­schal­lung fragt, weni­ger sub­jek­tiv an den Unter­su­chungs­ge­gen­stand her­an­tritt und dar­über hin­aus die Ver­hält­nis­se in vie­len ver­schie­de­nen Län­dern im Blick hat.

Die ers­te, ele­men­ta­re Unter­schei­dung, die Ellul vor­nimmt, ist die zwi­schen poli­ti­scher und „sozio­lo­gi­scher“ Pro­pa­gan­da. Gewöhn­lich wird als Pro­pa­gan­da nur die poli­ti­sche Dem­ago­gie auto­ri­tä­rer oder tota­li­tä­rer Füh­rer, Staa­ten bzw. Bewe­gun­gen bezeich­net. Hit­ler dient hier­für häu­fig als Para­de­bei­spiel. Der poli­ti­schen Pro­pa­gan­da wird unter­stellt, ihr Ziel sei es, dem Volk eine bestimm­te Ideo­lo­gie mit allen Mit­teln einzuhämmern.

Die Annah­men dahin­ter degra­die­ren das Volk zum Opfer bös­wil­li­ger Mani­pu­la­ti­on. Dage­gen erhebt Ellul Ein­spruch: Pro­pa­gan­da wäre nie­mals erfolg­reich, wür­de sie sich dar­auf beschrän­ken, welt­frem­de theo­re­ti­sche Kon­struk­te in die Köp­fe der Men­schen zu pflan­zen. Sie müs­se viel­mehr immer an Gefüh­le, Stim­mun­gen und vor­han­de­ne Vor­stel­lun­gen ando­cken. Dies kön­ne aus­schließ­lich über aktu­el­le Ereig­nis­se gesche­hen, die im Sin­ne der eige­nen Ideo­lo­gie inter­pre­tiert wer­den, um kon­di­tio­nier­te Refle­xe hervorzubringen.

Neh­men wir als Bei­spiel den Neid: Die Ver­an­la­gung dazu ist bei den meis­ten Men­schen von Vorn­her­ein vor­han­den. Sozia­lis­ti­sche Ideo­lo­gen wer­den ihn schü­ren, indem sie auf jeden Fehl­tritt eines pro­mi­nen­ten Rei­chen hin­wei­sen und ihn als Beleg dafür wer­ten, daß es mehr Umver­tei­lung braucht. Nur in unend­li­cher Wie­der­ho­lung ver­fängt die­ses Vorgehen.

Ganz wich­tig für Ellul: Ent­ge­gen der auch heu­te noch zu hören­den Behaup­tung, wonach Pro­pa­gan­da haupt­säch­lich mit „Fake News“, Fäl­schun­gen und Lügen arbei­te, ist er fest von der Über­le­gen­heit kor­rek­ter Infor­ma­tio­nen über­zeugt. Pro­pa­gan­da sei dann am wirk­sams­ten – und dar­um geht es ihr stets vor­ran­gig –, wenn sie Tat­sa­chen mit Emo­tio­nen auf­la­den kann. Es kommt somit auf die ziel­füh­ren­de Aus­wahl und Inter­pre­ta­ti­on der Infor­ma­tio­nen an. Wer für eine ega­li­tä­re Gesell­schaft agi­tie­ren möch­te, wid­met sich folg­lich den Ver­feh­lun­gen der Gel­de­li­te. Wer hin­ge­gen dem Libe­ra­lis­mus anhängt, soll­te Erfolgs­ge­schich­ten von spen­da­blen Unter­neh­mern erzäh­len und die Gewalt­ex­zes­se der Unter­schicht in den Fokus rücken.

Nur an die Bericht­erstat­tung zu den­ken, greift aller­dings zu kurz: „Pro­pa­gan­da ist weit weni­ger poli­ti­sche Waf­fe eines Regimes (was sie natür­lich auch ist) denn Wir­kung einer tech­no­lo­gi­sier­ten Gesell­schaft, die den gan­zen Men­schen ein­schließt und dazu ten­diert, ihn voll­stän­dig zu durch­drin­gen“, lehrt Ellul.

An die­sem Punkt kommt die „sozio­lo­gi­sche Pro­pa­gan­da“ ins Spiel. Sie umfaßt Maß­nah­men der soft power, mit denen ein Lebens­stil geprägt wird. Wenn Wer­bung, Tech­nik­de­sign, Schul­un­ter­richt, Sozi­al­für­sor­ge und ande­re wei­che Fak­to­ren „spon­tan und natür­lich in ein und die­sel­be Rich­tung“ lie­fen, fin­de eine Ver­än­de­rung des Umfelds von Per­so­nen statt. Man kön­ne damit die Mas­sen zwar nicht zum direk­ten Han­deln bewe­gen. Dies fällt in den Auf­ga­ben­be­reich der poli­ti­schen Pro­pa­gan­da und sei z.B. in Kri­sen­zei­ten erfor­der­lich. Rela­tiv sta­bi­le, lang­sam expan­die­ren­de und sich in „Auf­lö­sung begrif­fe­ne“ Gesell­schaf­ten könn­ten hin­ge­gen mit einer sozio­lo­gi­schen Pro­pa­gan­da „ohne Rei­bung“ am bes­ten gelenkt wer­den. Ellul erklärt dazu: „Sie macht emp­fäng­lich, führt sanft eine Wahr­heit, eine Ethik ein, ver­mit­telt über kurz­wei­li­ge, gut­ar­ti­ge For­men, die letzt­lich aber zur Schaf­fung einer mas­si­ven, fes­ten Struk­tur der Per­son füh­ren.“ Als Bei­spiel nennt er die „psy­cho­lo­gi­sche Stan­dar­di­sie­rung“ über den Ame­ri­can Way of Life.

Vor­aus­set­zung für die­se sub­ti­le Form der Gleich­schal­tung ist die vor­he­ri­ge Ent­ste­hung einer Mas­sen­ge­sell­schaft. Dort, wo der Mensch wei­ter­hin in über­schau­ba­ren Klein­grup­pen lebt, ist er indes rela­tiv immun gegen Pro­pa­gan­da. Dies gilt ins­be­son­de­re für Dör­fer und abge­le­ge­ne Gegen­den, die bis heu­te wie z.B. die länd­li­chen Räu­me Ost­deutsch­lands durch poli­ti­sche Eigen­wil­lig­keit auf­fal­len. Erst die Zer­stö­rung loka­ler Bezü­ge brin­ge ein „sich selbst über­las­se­nes Indi­vi­du­um“ her­vor, das „ohne Schutz“ der Pro­pa­gan­da tech­ni­scher Appa­ra­te aus­ge­setzt ist und so „von einer sozia­len Strö­mung erfaßt wer­den kann“.

Die Pro­pa­gan­da-Appa­ra­te sei­en dabei gut bera­ten, sich auf die Unent­schie­de­nen zu kon­zen­trie­ren, die in die eine oder ande­re Rich­tung kip­pen kön­nen. Allein des­halb ist eine Wagen­burg­men­ta­li­tät, die nur nach der Zustim­mung der bereits gewon­ne­nen Anhän­ger giert, kon­tra­pro­duk­tiv. Wäh­rend bei vie­len kri­ti­schen Autoren die The­se anzu­tref­fen ist, die Mas­sen­ge­sell­schaft pro­du­zie­re Gleich­gül­tig­keit, sieht Ellul das differenzierter.

Denn: „Wie noch nie­mals zuvor in der Geschich­te sind alle von den poli­ti­schen Ent­schei­dun­gen betrof­fen.“ So sei etwa die Steu­er­last min­des­tens zehn­mal höher als im 17. Jahr­hun­dert. Wie die­se Mit­tel ver­wen­det wer­den, geht jeden direkt etwas an. Ver­stärkt wird die­ser Druck nach Posi­tio­nie­rung zudem von der Idee der Volks­sou­ve­rä­ni­tät. Gera­de in der Demo­kra­tie habe daher der Bür­ger das Bedürf­nis nach einer „fer­ti­gen Mei­nung“. Die jewei­li­gen Ange­bo­te dafür wer­den ihm schmack­haft gemacht durch die Auf­wer­tung der eige­nen Person.

In der Wer­bung, die ein befrei­tes Lebens­ge­fühl durch einen neu­en Joghurt pro­pa­giert, ist die­se Auf­wer­tung am offen­sicht­lichs­ten. In der Poli­tik ist sie jedoch eben­so wich­tig: Der Arbeits­lo­se möch­te nicht hören, daß sei­ne aktu­el­le Situa­ti­on das Ergeb­nis einer ver­geig­ten Bil­dungs­lauf­bahn ist. Er möch­te nicht an sei­ne Eigen­ver­ant­wor­tung erin­nert wer­den – womög­lich noch mit dem Auf­ruf, den Kar­ren selbst aus dem Dreck zu zie­hen. Für sein Selbst­bild ist es wohl­tu­en­der, wenn ihm Infor­ma­tio­nen zuge­spielt wer­den, die (schein­bar) bele­gen, daß die Regie­rung die Arbeits­lo­sig­keit ver­ur­sacht hat.

Aus die­sem Grund gebe es eine Not­wen­dig­keit von Pro­pa­gan­da. Ihr nega­ti­ver Ein­fluß las­se sich auch kaum durch Bil­dung mil­dern, weil der Mensch in der Moder­ne auf viel zu vie­le Sach­ver­hal­te reagie­ren müs­se und sich nur in den sel­tens­ten Fäl­len adäquat dar­über selbst infor­mie­ren kön­ne. Auf vor­ge­fer­tig­te Mei­nun­gen zurück­zu­grei­fen, ist somit unum­gäng­lich. Dadurch ent­ste­hen Echo­kam­mern – Ellul nann­te sie noch „geschlos­se­ne Geis­tes­zel­len“ – und die Demo­kra­tie ent­fernt sich immer wei­ter von den Idea­len der Aufklärung.

Gegen­über die­sem Kon­flikt zeigt er sich illu­si­ons­los: „Aus der Demo­kra­tie einen Mythos zu machen bedeu­tet, das genaue Gegen­teil von Demo­kra­tie her­vor­zu­brin­gen.“ Das hei­ße: „Sobald sie zum Gegen­stand von Pro­pa­gan­da avan­ciert ist, wird die Demo­kra­tie so tota­li­tär, so auto­ri­tär und so aus­schlie­ßend wie die Dik­ta­tur.“ Spricht hier ein Rea­list oder ein Pes­si­mist? Das darf jeder für sich selbst ent­schei­den – frei von jeder Pro­pa­gan­da und Beeinflussung.

Jac­ques Ellul: Pro­pa­gan­da. Wie die öffent­li­che Mei­nung ent­steht und geformt wird. Frankfurt/Main 2021.

Bild (Ellul): Jan van Boe­ckel, ReRun Pro­duc­tions, Wiki­pe­dia, CC BY-SA 4.0

Beitrag zuerst erschienen in: Recherche D, Heft 14, Rhetorik und Propaganda (Juni 2022)

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