Anfang August erlebten die Börsen einen heftigen Kursrutsch. Für den Dax ging es von 18.500 Punkten runter auf 17.300. Noch heftiger war der Einbruch in Japan. Der Nikkei-Index lag Mitte Juli noch bei über 42.000 Punkten und rauschte am 5. August runter bis auf 31.500.
Der einzig objektiv greifbare Grund war die Anhebung des Leitzinses durch die japanische Zentralbank von 0 bis 0,1 % auf „etwa 0,25 %“. Das allein rechtfertigte den Absturz allerdings nicht. Entscheidend ist es deshalb auf die kursierenden Narrative an den Börsen zu schauen: Bis Anfang August erzählte man sich dort, den Notenbanken in Amerika und Europa werde ein „soft landing“ gelingen. Hinter dem Bild der „sanften Landung“ verbirgt sich die Annahme, schnell zur Politik des billigen Geldes zurückkehren zu können, weil die Inflation zurückgeht. Zinssenkungen könnten dann gerade noch rechtzeitig eine Rezession verhindern.
Von „hard landing“ (harte Landung) wird indes gesprochen, wenn die Wirtschaft infolge der hohen Zinsen in eine Rezession rutscht. Die Wirtschaft schrumpft in diesem Szenario und muß sich aus dieser Abwärtsspirale erst wieder befreien. Umso hartnäckiger sich dann die Inflation hält und die Notenbank zu hohen Zinsen zwingt, umso problematischer für die Produktion und Entwicklung der Arbeitsplätze.
Was war nun also Anfang August geschehen? Die Optimisten des „soft landing“ bekamen auf einmal weiche Knie. Stattdessen hatten die Pessimisten des „hard landing“ kurzzeitig die Deutungshoheit.
Eine ähnliche Diskursverschiebung gab es darüber hinaus bei der Bewertung der Künstlichen Intelligenz. Wie die Kursentwicklung von NVIDIA zeigt, herrschte bis Sommer 2024 ein grenzenloser Optimismus. Künstliche Intelligenz werde die Wirtschaft revolutionieren, Prozesse beschleunigen und dazu beitragen, Arbeitskosten senken zu können. Im ersten Halbjahr 2024 hatte sich der Kurs von NVIDIA so in etwa verdreifacht.
Seitdem häufen sich die Abstürze: „Börsenwert von Nvidia bricht um 279 Milliarden Dollar ein – an nur einem Tag“, titelte der Spiegel am 4. September. Das sei „so viel Marktwert wie noch kein US-Unternehmen an einem Tag“. Auch Anfang August ging es für den Chipentwickler schon steil bergab. Neben der völlig übertriebenen Bewertung (gemessen am Kurs-Gewinn-Verhältnis, KGV) lag das am Narrativ zur Künstlichen Intelligenz. Die Zweifler an ihrem Nutzen machten geltend, daß Künstliche Intelligenz zunächst riesige Investitionen – also Kosten – erfordere. Ob sich diese Investitionen rentieren, sei fraglich. Für die KI-Funktionen der Grafikprogramme von Adobe zum Beispiel müßten sich Käufer bzw. bereitwillige Abonnenten, die ständig steigende Preise hinnehmen, finden. Denkbar sei aber auch, daß niemand mehr Adobe brauche, weil kostenlose KI-Software ähnlich leistungsfähig ist. Ob Adobe zu den voraussichtlichen KI-Gewinnern oder Verlierern zählen wird, hängt also maßgeblich vom Narrativ ab und das jeweils vorherrschende Narrativ schlägt auf den Aktienkurs durch. Adobe hat daher zuletzt eine Achterbahnfahrt an der Börse durchgemacht.
Wer die Konjunktur von Narrativen lesen und erahnen kann, dürfte sehr schnell zum Multimillionär werden können. Wichtig ist dabei zu begreifen, daß Narrative nichts mit der Wahrheit zu tun haben müssen. Wer zum Beginn des Corona-Ausnahmezustandes von der Harmlosigkeit des Virus überzeugt war, konnte das nicht automatisch in Kursgewinne ummünzen. Vielmehr können an der Börse auch richtige Erkenntnisse zu Verlusten führen, weil unwahre Narrative die Kurse gewissermaßen in die falsche Richtung treiben können.
Vor diesem Hintergrund konnte man Bahnbrechendes erwarten, als 2019 der Ökonomie-Nobelpreisträger Robert J. Shiller ein Werk über die Narrative Wirtschaft vorlegte und der Verlag einen „revolutionären Erklärungsansatz“ versprach. Eine wichtige Grundlage für diesen Ansatz ist die Identitätsökonomie, wie Shiller selbst erklärt. Mit der Identitätsökonomie hatten wir uns bereits in Recherche D, Heft 5 (S. 53), beschäftigt. Eine wichtige Erkenntnis: Unternehmen werden nie gegen den Zeitgeist ankämpfen, weil die Kosten zu hoch sind, um „gesellschaftliche Normen zu ändern“. Dieses ökonomische Grundgesetz führt nun in der Tat dazu, daß Unternehmen den gesellschaftlichen Diskursen schutzlos ausgeliefert sind. Fraglich ist nur eins: Sind die Kosten zur Erfüllung der Forderungen des Narrativs der „Klimaneutralität“ höher als die Kosten, die dadurch entstehen, wenn ein Unternehmen gegen den politisch korrekten Strom schwimmt? Leider denkt Shiller darüber aber genauso wenig wie George Akerlof, Autor der Identity Economics, nach. Vielmehr wollen die Identitätsökonomen die Ungleichheit zwischen den Geschlechtern und Ethnien überwinden. Dazu müßten alle biologischen und historischen Identitätsmerkmale ausgelöscht werden.
Doch zurück zur Narrativen Wirtschaft: Shiller hat keine Anleitung zum Reichwerden geliefert. Er hat auch keinen „revolutionären“ Ansatz im Gepäck. Und er ist auch keiner von uns, wie der kurze Exkurs zur Identitätsökonomie belegt haben sollte. Dennoch enthält das Buch wichtige Erkenntnisse zum Wechselspiel von Wirtschaft und öffentlicher Meinung. Shiller hat – vor Corona! – richtig erkannt, daß sich öffentliche Erzählungen und Gegen-Erzählungen viral ausbreiten. Die Modelle zur exponentiellen Ausbreitung von Viren durch „Superspreader“ lassen sich also auf Medien übertragen. (VS-Chef Haldenwang liegt demnach nicht völlig falsch, wenn er der Neuen Rechten vorwirft, „Superspreader“ zu sein.)
Es lassen sich dabei auch Heilungsphasen beobachten. In den Massenmedien kann fast jede Sau durchs Dorf getrieben werden. Irgendwann erkennen die Menschen allerdings den Blödsinn, den man ihnen erzählte, als Blödsinn – ohne das im Nachhinein offen zuzugeben natürlich.
Ansonsten sind die Grundlagen zum Verständnis der „narrativen Wirtschaft“ erschreckend einfach. Die Erzählungen über Unternehmen orientierten sich meistens an „Schöpfungsmythen (…) von primitiven Stämmen über ihren eigenen Ursprung“, so Shiller. „Die Geschichte konzentriert sich häufig auf einen Mann (selten eine Frau), der eine beträchtliche Voraussicht zeigte oder Mut, den Stamm zu gründen – oder in diesem Fall, die Firma. Das Narrativ neigt dazu, auf diese Gründerväter-Geschichte Bezug zu nehmen, wenn es darum geht, die vielen Storys zu rechtfertigen, die über die Firma, so wie sie heute existiert, erzählt werden.“
Darüber hinaus lasse sich die Wirtschaftsberichterstattung auf die 20 Haupthandlungen aus der Literaturwissenschaft herunterbrechen, die da wären: „Suche, Abenteuer, Streben, Rettung, Flucht, Rache, das Rätsel, Rivalität, Underdog, Versuchung, Metamorphose, Transformation, Erwachsenwerden, Liebe, verbotene Liebe, Opfer, Entdeckung, kläglicher Exzess, Aufstieg und Abstieg“. Einige Autoren gehen sogar davon aus, daß es nur sieben Grundhandlungen gibt.
Ein weiteres Merkmal dieser Geschichten: „Beliebte Narrative haben oft ein zugrunde liegendes ‚Wir gegen sie‘-Thema, einen manichäischen Ton, der das Böse oder die Absurdität bestimmter Charaktere in der Geschichte offenbart“, erklärt Shiller.
Solange Wirtschaftsnarrative staubtrocken bzw. faktenbasiert bleiben und diese literaturwissenschaftlichen Grundlagen ignorieren, werden sie keine öffentlich wahrnehmbaren Erfolge bringen und können nicht viral gehen. Aber, insistiert Shiller: Jederzeit können diese staubtrockenen, langweiligen Geschichten durch „anscheinend irrelevante Mutationen“ aufgepeppt werden. Diese Mutationen führen dann womöglich zu einer „leicht erhöhten Ansteckungsrate“, einer „leicht verminderten Vergessensrate“ oder zu „Pioniereffekten“, die dem Narrativ einen Vorteil gegenüber anderen Narrativen verschaffen.
Als Beispiel dafür nennt Shiller die Laffer-Kurve. Sie beschreibt den Zusammenhang zwischen der Höhe von Steuersätzen und Steuereinnahmen. Die Quintessenz: Sind die Steuern zu hoch, sinken die Steuereinnahmen des Staates wieder, weil z.B. die Bürger den Konsum verweigern. Arthur Laffer stellte diese These 1974 das erste Mal vor. Viral ging sie aber erst, als 1978 in einem Sachbuch geschildert wurde, „wie Laffer bei einem Steak-Dinner“ mit Dick Cheney und Donald Rumsfeld aus dem Weißen Haus seine Kurve auf eine Serviette malte. Die Story über diese Serviette machte die Laffer-Kurve berühmt. Ähnliches ließe sich über die Bierdeckel-Steuererklärung von Professor Paul Kirchhof sagen.
Während wir jedoch bis heute auf die Kirchhof-Reform vergeblich warten, zeigte die Geschichte über die Laffer-Kurve Wirkung. „Nach der Laffer-Kurven-Epidemie hat die Reagan-Administration (1981–1989) die oberste Einkommensteuerklasse in den USA von 70 Prozent auf 28 Prozent reduziert“, betont Shiller. „Sie hat auch die höchste Unternehmenssteuerklasse von 46 Prozent auf 34 Prozent und den nächsten Kapitalertragssteuersatz im Jahr 1981 von 28 Prozent auf 20 Prozent verringert.“
Die Wechselwirkungen von massenmedialen Erzählungen und wirtschaftlicher Konjunktur illustriert Shiller darüber hinaus besonders gut am Beispiel der Weltwirtschaftskrise von 1929. Was diese Krise mit der Blue Jeans und Fahrrädern zu tun hat, erfährt, wer das Buch zur Hand nimmt. Von größerer Bedeutung für die Gegenwart sind indes die Kapitel über Künstliche Intelligenz. „Ein tschechisches Theaterstück von 1921 (…) prägte das Wort Roboter, vom tschechischen Wort für Arbeiter, um die früheren Begriffe arbeitssparende Erfindung und Automaton zu ersetzen. Das Stück wurde das erste Mal in englischer Übersetzung in New York im Oktober 1922 aufgeführt und bekam gute Kritiken. Es war kein sofortiger Erfolg und wurde erst 1948 verfilmt. Aber es löste eine narrative Epidemie aus“, so Shiller.
Danach gab es „mindestens vier Narrative über künstliche Intelligenz“, nämlich „in den 1960er‑, 1980er‑, 1990er und 2010er-Jahren“. „Jedes Mal suggerierte das Narrativ, die Welt habe genau jetzt einen furchteinflößenden Wendepunkt erreicht, an dem die Maschinen alles übernehmen würden.“ Genutzt werden solche Ängste von politischen Akteuren, um Projekte wie das bedingungslose Grundeinkommen zu vermarkten. Es geht also nicht nur um die Bewertung von Unternehmen an der Börse, sondern stets auch politischen Profit.
Shiller schlußfolgert: „Niemand kann die Effekte von arbeitssparenden und intelligenten Maschinen auf Einkommen und Arbeit in der Zukunft vorhersagen, aber die Narrative selbst haben das Potenzial, verstärkte ökonomische Booms und Rezessionen anzutreiben und die öffentliche Ordnung zu beeinflussen.“
Verursachen Narrative somit eine höhere Volatilität und können Crashs auslösen, selbst wenn die Wirtschaft halbwegs gesund sein sollte? Shiller dazu ganz nüchtern: „Das Wort Crash wurde schnell mit dem Verfall der Aktienpreise an einem bestimmten Tag in Verbindung gebracht, dem 28. Oktober 1929, zusammen mit dem etwas geringeren Preissturz am 29. Oktober 1929, und man verband ihn untrennbar mit der Weltwirtschaftskrise, die folgte. Crash weckte Assoziationen mit betrunkenen Fahrern oder Rennwagen, die ans Limit gehen und das Crash-Narrativ legt typischerweise nahe, dass eine Periode eines außergewöhnlichen Booms, eines übertriebenen Optimismus und vielleicht sogar leichtsinniges und unmoralisches Verhalten dem Crash vorausging. Das Narrativ menschlicher Dummheit, das durch einen Aktienboom, gefolgt von einem furchtbaren Aktiencrash, ausgedrückt wird, ist heute immer noch so aktuell wie eh und je. (…)
Das Wort Crash wurde vor 1929 normalerweise nicht auf den Aktienmarkt angewendet und die neue Nutzung dieses Begriffs war ein Hinweis auf die neue Perspektive auf den Aktienmarkt, nämlich, dass wirtschaftliches Wachstum in großem Umfang von der Performance des gesamten Aktienmarkts abhängt und die Aktienindizes wie Orakel betrachtet wurden. Die Phrase Boom and Crash war bereits im 19. Jahrhundert beliebt, aber sie wurde meistens auf feuernde Kanonen bezogen, auf Sturmfluten, die die Küste trafen, oder selbst auf die Musik von Richard Wagner. Nach 1929 ging Boom and Crash viral und beschrieb normalerweise den Aktienmarkt. (…)
Auch wenn seit dem Crash von 1929 viel Zeit vergangen ist und eine Menge des Zeitgeistes der 1930er-Jahre verloren ging, hält das Gefühl an, dass die Vereinigten Staaten einen weiteren Börsencrash erlebten könnten. Dieses immerwährende ökonomische Narrativ ist ein bleibendes Erbe von 1929 und trägt vermutlich dazu bei, dass Preisstürze am Ende eines Booms verstärkt werden und das Geschäftsklima schlechter wird.“
Literatur: Robert J. Shiller: Narrative Wirtschaft. Wie Geschichten die Wirtschaft beeinflussen – ein revolutionärer Erklärungsansatz. Kulmbach 2020.