Verein Journalismus und Wissenschaft

Hyperliberale Diktatur oder (sozial-)konservative Wende?

Wir leben in einer Über­gangs­zeit – einem Inter­re­gnum. Die alten Ideo­lo­gien sind tot, doch die neu­en ver­ste­cken sich hin­ter den hei­li­gen Begrif­fen die­ser alten Ideo­lo­gien, um ihre wah­ren Antrie­be zu ver­ber­gen. Zugleich for­mie­ren sich neue Kräf­te, die nicht greif­bar sind. Man stellt nur ver­dutzt fest, daß es sich weder um klas­si­sche „Rech­te“ noch um „Lin­ke“ han­delt. Eins ist aber sicher: Die­se neu­en Kräf­te brin­gen die Ver­hält­nis­se zum Tanzen.

Der Rei­he nach:

Die alten Ideo­lo­gien – das sind der Libe­ra­lis­mus (Mit­te), der Sozia­lis­mus (links) und der Kon­ser­va­tis­mus (rechts).

Die hei­li­gen Begrif­fe des Main­streams, die er völ­lig irre­füh­rend ein­setzt – das sind: Frei­heit, Gleich­heit, Viel­falt, Tole­ranz, Men­schen­rech­te, Nach­hal­tig­keit usw.

Die neu­en Kräf­te – das sind Sozi­al­pa­trio­ten, „Links­kon­ser­va­ti­ve“ wie Sahra Wagen­knecht, „Blue Labour“ (rech­te Sozi­al­de­mo­kra­ten), Anhän­ger auto­ri­tä­rer Stadt­staa­ten (Vor­bild: Sin­ga­pur), Liber­tä­re wie Javier Milei und diver­se „Dik­ta­tur­fans“, die ihre Hoff­nun­gen in Herr­scher hin­ein­pro­ji­zie­ren, die mehr Macht haben als durch unzäh­li­ge Insti­tu­tio­nen gelähm­te Demokraten.

In den Neu­en Bun­des­län­dern ste­hen die­se neu­en Kräf­te an der Schwel­le zur Mehr­heit. In Ost­eu­ro­pa, z.B. Ungarn, wur­de die­se Mehr­heit schon gewon­nen. Frag­lich ist aller­dings, ob es aus­reicht, die par­la­men­ta­ri­sche Mehr­heit und eine Domi­nanz der öffent­li­chen Mei­nung zu errin­gen, oder ob die gewach­se­nen Insti­tu­tio­nen des Wes­tens über Gerich­te, wirt­schaft­li­che Zwän­ge und supra­na­tio­na­le Orga­ni­sa­tio­nen ihre Macht behaup­ten können.

In der letz­ten Aus­ga­be von Recher­che D (Heft 23) haben wir die­se Fra­ge bereits inten­siv dis­ku­tiert und mit Wolf­gang Stre­eck von einem unent­schie­de­nen Tau­zie­hen zwi­schen Glo­ba­lis­ten und Patrio­ten gesprochen.

An die­ser Stel­le set­zen nun Kol­ja Zyda­tiss und Mark Fel­don mit ihrem neu­en Buch Inter­re­gnum. Was kommt nach der Libe­ra­len Demo­kra­tie? an. Das gro­ße „L“ ist dabei äußerst wich­tig. Denn in den 1960er-Jah­ren spal­te­te sich der Libe­ra­lis­mus in den USA end­gül­tig auf. Die „Libe­ra­le Demo­kra­tie“ mit gro­ßem „L“ steht für den Links­li­be­ra­lis­mus der Demo­kra­ten. Ein klei­nes „l“ ver­wen­den hin­ge­gen seit­her die Repu­bli­ka­ner, um ur-ame­ri­ka­ni­sche Prin­zi­pi­en kennt­lich zu machen. Zyda­tiss und Fel­don zufol­ge han­delt es sich dabei um „schlan­ker Staat, star­ker Föde­ra­lis­mus, nied­ri­ge Steu­ern, Sub­si­dia­ri­täts­prin­zip, Lais­sez-Fai­re-Wirt­schaft und ‚robus­ter Individualismus‘“.

Die Lin­ke in den USA ent­schied sich indes für einen „auto­ri­tä­ren Sozi­al­li­be­ra­lis­mus“. Der demo­kra­ti­sche Prä­si­dent Frank­lin D. Roo­se­velt – im Amt von 1932 bis zu sei­nem Tod 1945 und damit der ein­zi­ge US-Prä­si­dent mit mehr als zwei Amts­zei­ten über jeweils vier Jah­re – war „von den Leis­tun­gen des ita­lie­ni­schen Faschis­mus“ sehr ange­tan und ein Bewun­de­rer Mus­so­li­nis. Die­se Begeis­te­rung beruh­te übri­gens auf Gegen­sei­tig­keit, schil­dern die Autoren. Der „Völ­ki­sche Beob­ach­ter“ der Natio­nal­so­zia­lis­ten war voll des Lobes über die Wirt­schafts­po­li­tik der USA und ihre auto­ri­tä­re Wen­de in den 1930er-Jah­ren. Daß man sich aus­ge­rech­net heu­te mit dem „Green New Deal“ auf den dama­li­gen „New Deal“ beruft, wer­ten Zyda­tiss und Fel­don als ein bezeich­nen­des Indiz für den Wesens­kern der Klimamaßnahmen.

Der Libe­ra­lis­mus mutier­te aber nicht erst im 20. Jahr­hun­dert. „Der Tugend­ter­ror, in den die Ers­te Fran­zö­si­sche Repu­blik gestürzt wur­de, führ­te der Welt vor Augen, wel­che Fol­gen ein revo­lu­tio­nä­rer Umsturz haben kann, selbst wenn er von einem libe­ra­len Pro­gramm und von libe­ra­len Akteu­ren getra­gen wird“, heißt es in Inter­re­gnum. Die­se pro­ble­ma­ti­sche Grund­ten­denz des Libe­ra­lis­mus kommt vor allem dann zum Vor­schein, wenn sich der Libe­ra­lis­mus nicht mehr auf klei­ne Räu­me – z.B. die Schweiz – kon­zen­triert, son­dern in sei­nem uni­ver­sa­lis­ti­schen Stre­ben impe­ri­al wird. Das betrifft vor allem den US-ame­ri­ka­nisch gepräg­ten Libe­ra­lis­mus, der glaub­te, der gan­zen Welt Frei­heit und Demo­kra­tie not­falls mit krie­ge­ri­scher Gewalt brin­gen zu müs­sen. Zyda­tiss und Fel­don kri­ti­sie­ren die dahin­ter­ste­hen­den „anthro­po­lo­gi­schen Annah­men“. In „libe­ra­len Ver­laut­ba­run­gen“ wir­ke „auch heu­te noch der Glau­be, der Mensch seh­ne sich letzt­lich über­all, ob in Afgha­ni­stan, der Tür­kei oder im Jemen, nach Selbst­ver­wirk­li­chung, Tole­ranz und Säku­la­ris­mus, also nach einer libe­ra­len und demo­kra­ti­schen Ordnung“.

Die­ses unrea­lis­ti­sche und bio­lo­gisch unhalt­ba­re Men­schen­bild des Libe­ra­lis­mus führ­te auch zum Dekon­struk­ti­vis­mus der Gegen­wart. Wenn ein „Selbst­be­stim­mungs­recht“ pro­pa­giert, jeder Mensch kön­ne sich sein Geschlecht „frei“ wäh­len, so führt das schlu­ßend­lich zur Ver­krüp­pe­lung, da auch die moder­nen Ope­ra­ti­ons­tech­ni­ken der Medi­zin kei­ne Wun­der bewir­ken kön­nen. Die bedrü­ckends­ten Pas­sa­gen im Buch von Zyda­tiss und Fel­don sind jene, in denen die Autoren schil­dern, wie häu­fig Geschlechts­um­wand­lun­gen schei­tern und schwe­re gesund­heit­li­che Schä­den hinterlassen.

Ähn­lich ver­hält es sich mit den ande­ren Frei­heits­ver­spre­chen der Vielfalts‑, Öko- und Trans­hu­ma­nis­mus-Regime. Die­se drei For­men bezeich­nen die Autoren als Aus­druck eines „Hyper­li­be­ra­lis­mus“, der die Men­schen von ihren Grund­la­gen befrei­en will. Das kann nur schei­tern. Obwohl man damit also an dem Ast sägt, auf dem man sitzt, sind es ins­be­son­de­re die welt­weit größ­ten Unter­neh­men, die die­se Ideo­lo­gie vor­an­trei­ben. „Es gibt kein For­tu­ne-500-Unter­neh­men (aus der jähr­li­chen Lis­te der 500 umsatz­stärks­ten Unter­neh­men der USA) mehr, das ohne eige­ne Per­so­nal­ab­tei­lun­gen zur Durch­set­zung pro­gres­si­ver Zie­le – ‚Kli­ma­ge­rech­tig­keit‘, ‚Reprä­sen­tanz von quee­ren Men­schen‘, ‚ras­si­sche Ega­li­tät‘ – aus­kommt“, erklä­ren Zyda­tiss und Feldon.

Was die „Hyper­li­be­ra­len“ nicht begrei­fen, sei, daß der „libe­ra­le Staat“ auf „prä­li­be­ra­le Fun­da­men­te“ zurück­grei­fen muß, die im 19. Jahr­hun­dert zur Blü­te­zeit des Libe­ra­lis­mus und bruch­stück­haft auch noch zur Zeit des deut­schen Wirt­schafts­wun­ders mit dem „Chris­ten­tum und der Klas­sik“ vor­la­gen. Ohne die­se mora­li­sche Sub­stanz geht es nicht. Markt und Moral gehö­ren untrenn­bar zusam­men. Oder anders aus­ge­drückt: Ohne Fleiß kein Preis!

Dar­über hin­aus leug­nen die Hyper­li­be­ra­len die natür­li­che Begrenzt­heit der Welt. Wohin das im Extrem­fall führt, ließ sich die letz­ten Jah­re in Sri Lan­ka stu­die­ren. Der dor­ti­ge Ver­such, radi­kal auf eine „bio­lo­gi­sche Land­wirt­schaft“ umzu­stel­len, führ­te zu Hun­gers­nö­ten und zur Flucht des Prä­si­den­ten ins Ausland.

Ange­sichts sol­cher Zustän­de haben Kon­ser­va­ti­ve die Rea­li­tät auf ihrer Sei­te. Den­noch zei­gen sich Zyda­tiss und Fel­don wenig sie­ges­ge­wiß. Der Grund: Die „Suche nach einer neu­en Iden­ti­tät“ wer­de „über­wie­gend ex nega­tivo“ geführt. „Die jah­re­lan­ge Pro­pa­gie­rung von Rela­ti­vis­mus, Belie­big­keit und einem ober­fläch­li­chen Begriff von Inklu­si­vi­tät und Viel­falt hat ihre Spu­ren hin­ter­las­sen“, kon­sta­tie­ren die Autoren.

Weil wir das auch so sehen, haben wir in unse­rem Lexi­kon auf recherche‑d.de damit begon­nen, posi­ti­ve Begrif­fe zu prägen.

Kol­ja Zydatiss/Mark Fel­don: Inter­re­gnum. Was kommt nach der libe­ra­len Demo­kra­tie? Mün­chen 2024.