Mit Mehr Demokratie wagen hat uns Oliver Zimmer derart positiv überrascht, daß wir direkt noch mehr von ihm lesen mußten. Zunächst: Wer ist dieser Mann? Oliver Zimmer ist Jahrgang 1963. Er besitzt die Staatsbürgerschaft der Schweiz und Großbritanniens, lehrte von 2005 bis 2021 als Professor in Oxford moderne europäische Geschichte und ist seitdem als Forschungsdirektor in Zürich am privat finanzierten, politisch ungebundenen „Center for Research in Economics, Management and the Arts“ tätig.
Zimmer kennt also aus eigener Erfahrung wie vermutlich kaum ein Zweiter die demokratischen Sonderfälle der Schweiz und Großbritanniens, die zusammen mit Norwegen gemein haben, sich der Postdemokratie der Europäischen Union, so gut es geht, entzogen zu haben. Genau darum geht es nun ausführlich in Wer hat Angst vor Tell? Unzeitgemäßes zur Demokratie (Basel 2021). Wer Angst vor dem Schweizer Nationalheld und Freiheitskämpfer Wilhelm Tell hat, ist indes schnell ersichtlich: Es sind die Technokraten in Politik, Wirtschaft, Medien und den Gerichten, die von oben herab vorgeben, wohin sich der „Zivilisationsfortschritt“ bewegen muß.
Die Schweiz spielte hier schon immer die Rolle des Stachels im Fleisch. Denn: Obwohl sie genau das Gegenteil machte, was die Eliten in der jeweiligen Zeit als vernünftig markiert hatten, war und ist sie äußerst erfolgreich. Sehr klug fragt Oliver Zimmer so zum Beispiel danach, warum sich die französisch sprechenden Regionen der Schweiz gegen den Napoleonischen Nationalstaat entschieden? „Weil sie erwarten durften, dass ihnen der Schweizer Staatenbund mehr Freiraum lassen würde als der französische Vernunftstaat mit seiner Doktrin der einen und unteilbaren Nation.“
Die Schweiz schert nicht nur heute aus mit der direkten Demokratie. Sie ging bereits im 19. Jahrhundert einen reaktionären Sonderweg, als sie dem Nationalstaat eine Absage erteilte und ihre alten mittelalterlichen Strukturen beibehielt. Diese scheinbare Rückständigkeit sollte sich jedoch in ökonomischer Hinsicht als Erfolgsrezept der Schweiz herausstellen. Zimmer erklärt das anhand des verhältnismäßig späten Eisenbahnbaus um 1900. Die großen Nationalstaaten vernetzten lediglich die großen Industriezentren und Großstädte miteinander. Die Schweiz baute hingegen Bahnhöfe und Schienen bis in kleine Ortschaften hinein. „Dieses System erwies sich als Quelle wirtschaftlicher Produktivität“, so Zimmer.
Seiner Ansicht nach haben die „archaischen eidgenössischen Traditionen und Institutionen mehr Modernität produziert (…) als die brillant komponierten Pamphlete der grossen Staatsphilosophen“. Der Grund dafür: Die historisch gewachsenen Formen sind so biegsam, daß sie sich schneller als eine Bürokratie an die neuen Herausforderungen der Umwelt anpassen können. Es braucht nicht erst ein neues Gesetz und eine neue Behörde. Wenn ihnen eigene Verantwortung übertragen wird, sind die meisten Bürger beweglicher. Zimmer resümiert daher unter Bezugnahme auf Herbert Lüthy: „Ein kommunalistisch aufgebauter Staat ist gut (…), solange der geistige Horizont dieser Kommunen über ihren Kirchturm hinausreicht, solange sie visionär veranlagt bleiben.“ Die Schweiz beherzige das und könne somit als „anarchischer Kommunalismus ohne ordnende Hand“ charakterisiert werden.
In seinem Buch widmet sich Zimmer darüber hinaus den judikativen Übergriffen durch internationale Gerichtshöfe, die immer stärker die Legislative bevormunden. Er seziert die naive Gedankenwelt der linksliberalen „Kaste aus Geist und Geld“, die heimlich überall im Westen eine „Democracy in Name Only“ installiere. Und, er erklärt herausragend, warum die Politik der Massenmigration schlecht für die Wirtschaft und soziale Gerechtigkeit ist. Hören wir ihm also noch einmal genau zu: „Weil Schweizer Löhne an der Spitze liegen, müssen auch die Produktivitätsraten hoch sein, was eine erspriessliche Herausforderung darstellt: Es besteht, wie auch in Skandinavien, ein ständiger Anreiz, in Ausbildung, in neue Technologien und in Bereiche mit hoher Wertschöpfung zu investieren. Dagegen führt ein grosser transnationaler Pool an günstigen Arbeitskräften mittelfristig meist zu einer Senkung der Kapitalinvestitionen pro Arbeitnehmer, was die Produktivitätsraten langfristig sinken lässt.“
Oliver Zimmer: Wer hat Angst vor Tell? Unzeitgemäßes zur Demokratie. Basel 2021.
Dieser Beitrag stammt aus Recherche D, Heft 19: Region, Nation, Europa (September 2023).