Sahra Wagenknecht schickt sich an, das verkrustete deutsche Parteiensystem aufzumischen. Bei der Europawahl am 9. Juni 2024 dürfte ihr „Bündnis“ (BSW) aufgrund der fehlenden Fünf-Prozent-Hürde fast sicher ins EU-Parlament einziehen.
Auch bei den Landtagswahlen in Sachsen, Thüringen und Brandenburg sieht es gut aus. Die Linkspartei kämpft indes um das politische Überleben. In Sachsen und Brandenburg könnte sie den Wiedereinzug ins Parlament verfehlen. In Thüringen dürfte sie aus der Regierung fliegen.
Bei der Parteigründung des BSW fiel zunächst vielen Beobachtern negativ auf, dass die neue linkspopulistische Kraft im Vorstand sehr „westlastig“ sei. Dennoch gelang es dem BSW in den letzten Monaten und Wochen, im Osten prominente Neuzugänge präsentieren zu können. Darunter befindet sich zum Beispiel Eisenachs Oberbürgermeisterin Katja Wolf. Auch in Sachsen wechselte ein Bürgermeister zu Wagenknecht. Der sächsische Landesverband kann zudem mit dem Chemnitzer Ingenieur Professor Jörg Scheibe an der Spitze eine Person präsentieren, die parteipolitisch unvorbelastet und beruflich erfolgreich ist.
Statt über zukünftige Wahlergebnisse und ihre mittelfristigen Auswirkungen zu spekulieren, sollte in einem ersten Schritt jedoch zunächst die Frage beantwortet werden, warum eine Person wie Sahra Wagenknecht ausgerechnet in der aktuellen Situation derart populär ist. In einem zweiten Schritt ist zu klären, was von der Politik Wagenknechts zu halten ist. Zu diesem Zweck eignet sich das neue Buch von Klaus-Rüdiger Mai über „Die Kommunistin. Sahra Wagenknecht: Eine Frau zwischen Interessen und Mythen“ aus dem Europa-Verlag hervorragend. Der Titel des Buches erweckt zwar den Eindruck, es ginge um eine Abrechnung mit Wagenknecht. Das ist aber ganz und gar nicht der Fall. Auch wer eine Biographie mit zahlreichen Enthüllungen über das politische und private Leben von Wagenknecht erwartet, wird enttäuscht. Mai erzählt nichts Neues über Wagenknecht. Was ihm allerdings meisterhaft gelingt, ist eine Einordnung der Figur Wagenknecht in den politisch-kulturell-philosophischen Kosmos unserer Zeit.
Mai selbst wurde ebenso wie Wagenknecht in der DDR geboren. Mai ist Jahrgang 1963, Wagenknecht Jahrgang 1969. Mai studierte noch zu DDR-Zeiten in Halle (Saale) Germanistik, Geschichte und Philosophie. Wagenknecht begann ihr Literatur- und Philosophie-Studium im Frühjahr 1990 in Jena. Vermutlich durch diese biographischen Ähnlichkeiten beweist Mai in seinem Buch ein feines Gespür für die intellektuellen Fähigkeiten und Schwächen Wagenknechts.
Zeitenwende: Charismatiker gesucht!
Damit sind wir bereits mittendrin in den wichtigsten Erkenntnissen, die sich aus dem Werk gewinnen lassen: Jahrzehntelang dominierten in Deutschland die farblosen Parteibürokraten und Verwaltertypen. Das gilt sowohl für die Bundesrepublik als auch die DDR mit ihren Erich Honeckers. Daß in den letzten Jahren aber auf einmal weltanschaulich fundiert auftretende Politiker wie Björn Höcke und eben Sahra Wagenknecht große Gefolgschaft, aber auch große Feindschaft finden, läßt sich als Hinweis auf eine „Zeitenwende“ interpretieren. Charismatische Politiker sind wieder gefragt – vor allem im Osten.
Woran liegt das? Die Konsensdemokratie habe ausgedient und verwandle sich gerade in eine „konfrontative Demokratie“, diagnostiziert Mai. Dadurch gewinnen nun nicht nur die Debatten im Parlament an Schärfe. Vor allem ist ein erbitterter Kampf in der Öffentlichkeit um die kulturelle Hegemonie ausgebrochen. Der marxistische Metapolitik-Vordenker Antonio Gramsci (1891–1937) aus Italien hat daher Hochkonjunktur. Er schrieb: „Wenn die herrschende Klasse den Konsens verloren hat, d.h. nicht mehr ‚führend‘, sondern einzig ‚herrschend‘ ist, Inhaberin der reinen Zwangsgewalt, bedeutet das gerade, daß die großen Massen sich von den traditionellen Ideologien entfernt haben, nicht mehr an das glauben, woran sie zuvor glaubten usw. Die Krise besteht gerade in der Tatsache, daß das Alte stirbt und das Neue nicht zur Welt kommen kann: In diesem Interregnum kommt es zu den unterschiedlichsten Krankheitserscheinungen.“
Propheten-Politiker wie Höcke und Wagenknecht feiern Erfolge!
Ein solches Interregnum – eine Zwischenzeit, in der es eine weit verbreitete Orientierungslosigkeit gibt und in der offen ist, wohin die Reise der Gesellschaft geht – erleben wir gegenwärtig. Sie bringt, davon ist Mai überzeugt, „Propheten-Politiker“ hervor. Spätestens seit Anfang der 90er-Jahre arbeitete Wagenknecht mit einer Strategie der „Selbstmystifikation“ auf Mitgliedschaft in diesem erlesenen Kreis hin. Dazu nutzte sie ihre besondere Kindheit und die persische Herkunft ihres Vaters. Sie inszenierte sich früh als Reinkarnation Rosa Luxemburgs. Sie ertrug ihre Andersheit und die Einsamkeit als Kommunistin nach der Wiedervereinigung, um schließlich nach einigen Wanderjahren durch Westdeutschland und bis nach Straßburg (EU-Parlament ab 2004) zu ihrer eigentlichen Berufung zu finden, eine neue linke Partei zu gründen, nachdem mit „Aufstehen“ das Vorhaben einer gesamtlinken Sammlungsbewegung krachend scheiterte.
Die Stärke der Propheten-Politiker besteht in Selbstbeschränkung. Die Postmoderne leidet an ihrem „Anything Goes“ (außer Rechtssein!), an ihrer inhaltlichen Beliebigkeit und am unendlichen Pluralismus tausender Lebensentwürfe und Interpretationsmöglichkeiten der Welt. Das hinterläßt ein riesiges Chaos. Wer es in einer solchen Zeit schafft, sinnvoll zu komprimieren und den Blick für das Wesentliche zu behalten, findet spielerisch leicht Anhänger.
Orthodox – marxistisch – konservativ
Wagenknecht hat diese Gabe. „Sie ist orthodox“, so Mai. Das heißt in ihrem Fall: Sie beschränkt sich darauf, die Welt mit Goethe, Marx und Hegel zu erklären. Mehr braucht sie im Kern nicht. Es geht nur darum, dieses altlinke Denken klug an die jeweilige Situation anzupassen. Man könnte auch sagen, daß Wagenknecht eine konservative Linke ist, weil sie sich von dem ganzen modischen Theoriekram der Nachkriegslinken (Foucault, Derrida, Habermas, …) niemals beeindrucken ließ.
Im Gegenteil: Der Herbst 1989 war für Wagenknecht laut eigener Aussage „die schlimmste Zeit“, die sie jemals erlebte. In dieser Wendezeit verbarrikadierte sie sich in ihrem Studierzimmer, um sich zwölf, dreizehn Stunden pro Tag autodidaktisch mit ihren drei Ideengebern zu befassen. Als sie dann 1990 in Jena tatsächlich zu studieren begann, merkte sie schnell das erbärmliche geisteswissenschaftliche Niveau, das in Windeseile aus Westdeutschland herüberschwappte. Mai betont dazu: „Selbst der größte Trottel im Mittelbau, aus dem sonst nichts weiter geworden wäre, hatte nun Aussicht auf eine Professur im Osten“. Wagenknecht stellte mit Entsetzen fest, daß es für diese mittelmäßigen Philosophielehrer keinen Hegel, keinen Kant und „antike Philosophie sowieso nicht“ mehr gab.
Auch in der PDS, in deren Vorstand Wagenknecht bereits mit 22 Jahren vertreten war, wollte man nach dem Ende der DDR sozialistische Grundsatzdebatten vermeiden. Die Realos um Gregor Gysi (siehe Interview in Recherche D, Heft 6, August 2019) bemühten sich, die PDS mit einem sozialdemokratischen Programm schnell anschlußfähig für Koalitionen zu machen. Wagenknecht hingegen stand „unbeirrt auf den Dogmen des orthodoxen Marxismus, des Stalinismus-Leninismus“ und zeigte eine „Kaltschnäuzigkeit gegenüber den vielen Opfern der stalinistischen Diktatur“, urteilt Klaus-Rüdiger Mai.
Wer meint, Wagenknecht habe sich erst in der jüngeren Vergangenheit von der Linkspartei abgenabelt, dem sei ein Rückblick in die 1990er-Jahre ganz besonders empfohlen: Quasi vom ersten Tag an stellte sich Wagenknecht gegen die machtpolitisch denkenden Opportunisten in der PDS. Sie begriff sich als Idealistin bzw. Ideologin mit einer unverrückbaren Weltsicht. Als Intellektuelle ist sie aus diesem Grund weniger satisfaktionsfähig, als sie selbst suggerieren will. Der Germanist Mai belegt das anhand ihrer oberflächlichen, aber häufig wiederholten Äußerungen zu Goethe. Wagenknecht verkenne bei Goethe die Eigenheiten des Literarischen und mache ihn „zu einem reimenden Marx-Vorläufer“.
In einer Politikblase der Bürokraten ist es dennoch ein „Alleinstellungsmerkmal“, sich selbstbewußt als Ideologin zu positionieren. Diesen Marketingtrick nutzte Wagenknecht sehr früh exzellent. Um das durchzuhalten, müsse man es sich abtrainieren, geliebt werden zu wollen. „Es gilt, die Kunst zu beherrschen, stoisch mit Würde die Ablehnung zu ertragen, denn – und so lautet das Geheimnis – die Ablehnung der einen führt zur Liebe der anderen“, analysiert Mai. Nur so ist Wagenknechts Frontalangriff auf die „Selbstgerechten“ und „Lifestyle-Linken“ zu verstehen, der ihr auch im patriotischen Spektrum Sympathien eingebracht hat.
Deshalb mögen Konservative Wagenknecht …
Es wirkt dabei auf den ersten Blick paradox, daß ausgerechnet die Ideologin Wagenknecht die Gesinnungsethiker der Neuen Linken bloßstellen muß. Letztendlich ist aber auch das ein altbekanntes Muster. Nestbeschmutzer genießen im medialen Diskurs die größte Glaubwürdigkeit. Und, Wagenknecht hat ja recht, wenn sie den Lifestyle-Linken „die Selbstzufriedenheit des moralisch Überlegenen“ vorwirft, den Schwenk von der materialistischen Sozialpolitik hin zu postmodernen, identitätspolitischen Nicht-Problemen kritisiert und sich an der sprachlichen Verharmlosung reibt.
„So wurde aus Egoismus Selbstverwirklichung, aus Flexibilisierung Chancenvielfalt, aus zerstörten Sicherheiten Abschied von der Normalität und Konformität, aus Globalisierung Weltoffenheit und aus Verantwortungslosigkeit gegenüber den Menschen im eigenen Land Weltbürgertum.“ Zeilen wie diese kommen in den Neuen Bundesländern und auch bei vielen Patrioten gut an, weil sie ins Schwarze treffen.
Wagenknecht hat daraus insbesondere auf dem Video-Kanal Youtube eine Strategie gemacht. Sie pickt sich Themen heraus wie die Corona-Impfpflicht, den Ukraine-Krieg, die grüne Umweltzerstörung, das Afghanistan-Desaster und die Unfähigkeit des Wirtschaftsministers Robert Habeck, die weit über das linke Lager hinaus Zustimmung generieren. Mit den eben genannten Themen hat sie auf Youtube jeweils ein Millionenpublikum erreicht. Entsteht so vielleicht sogar ein neues „revolutionäres Subjekt“, um noch einmal das Vokabular der Marxisten zu bemühen? Weil es mehr Überschneidungen beim „Dagegen“ als beim „Dafür“ gibt, ist das zwar unwahrscheinlich, aber nicht ausgeschlossen. Auf jeden Fall dürfte eine populistische Revolte, wenn überhaupt, vom Osten ausgehen. Hier schließt sich der Kreis: Die Neuen Linken haben jeden Kontakt zu normalen Menschen verloren. Wagenknecht hatte ihn 1989 verloren, aber seitdem zurückgewonnen. Das ist ihre große Chance mit dem BSW. Ob sie genutzt werden kann, wird die Zukunft zeigen.
Abschließend beschäftigt sich Klaus-Rüdiger Mai in seinem Buch in aller Kürze, jedoch sachlich sehr ausgewogen mit den wirtschaftspolitischen Vorstellungen von Sahra Wagenknecht. Sie versuche inzwischen „kommunistische Ideen mit denen des Ordoliberalismus zu kombinieren“. Ihr Ziel sei anscheinend eine „sozialistische Marktwirtschaft“. Ein solches Modell lasse Unternehmen bis zu einer bestimmten Größenordnung weitestgehend in Ruhe. Kleine und mittlere Betriebe haben also nichts zu befürchten. Nur die großen sollen weg und müssen eine Verstaatlichung befürchten.
Wagenknechts Denkfehler ist auch der Denkfehler des „solidarischen Patriotismus“!
Ähnliche Vorstellungen finden sich auch bei den Vertretern eines „solidarischen Patriotismus“ (siehe Recherche D, Heft 12). Was weder die Sozialpatrioten noch Wagenknecht indes beantworten können, ist, wie sich das auf die Anreizstruktur aller Unternehmen auswirkt? Warum sollte sich ein Verlag anstrengen, mehr Bücher zu verkaufen, wenn die Konsequenz wäre, dann das eigene Unternehmen zu verlieren? Warum sollte ein Telekommunikationsunternehmen einen freundlichen Kundenservice anbieten, wenn eine zu gute Arbeit die Zerschlagung bedeutet? Und welchen Anreiz gibt es dann noch, bessere Autos zu produzieren, wenn die Technologieführerschaft ins eigene Verderben führt? Klaus-Rüdiger Mai ist daher voll und ganz zuzustimmen, wenn er betont: „Man kann keine halbe Marktwirtschaft machen.“
Trotzdem legen Antikapitalisten wie Wagenknecht häufig den Finger in die richtige Wunde. So zum Beispiel, wenn sie mit Marx darauf hinweist, dass Kapitalisten nicht mit Unternehmern verwechselt werden dürfen. Denn, so faßt es Mai zusammen: „Kapitalisten sind für sie Leute, die mit fremden, nicht mit dem eigenem Kapital arbeiten. Der Kapitalist ist nicht am Kapitalismus interessiert, sondern daran, Geld zu verdienen.“ Diese Erkenntnis ist von fundamentaler Bedeutung und der wichtigste Grund, warum Kapitalisten die Nähe zum Staat suchen. Mit dem Staat zusammen und einer entsprechenden opportunistischen Haltung läßt sich immer noch am einfachsten Geld verdienen und vermehren.
Klaus-Rüdiger Mai: Die Kommunistin. Sahra Wagenknecht: Eine Frau zwischen Interessen und Mythen. München 2024.