Die Infragestellung der sogenannten Lieferketten und deren Brüchigkeit angesichts größerer Konflikte hindern die Europäische Union nicht daran, Handelsverhandlungen mit Indien zu starten. Dabei handelt es sich um einen Neustart.
Denn die Verhandlungen waren vor etwas mehr als acht Jahren ins Stocken geraten. Die Gesprächspartner hatten keine gemeinsame Basis gefunden. Die Interessen zwischen der freihandelsorientierten EU und dem protektionistischen Indien lagen angeblich zu weit auseinander. Nun hat Europa Indien wieder entdeckt, und es wurde Mitte Juni in Brüssel über technische Fragen zu den Hauptverhandlungen gesprochen.
Dabei ist die EU nach den USA und China Indiens drittgrößter Handelspartner, während vice versa Indien für die Europäische Union mit einem Anteil von etwas mehr als zwei Prozent am EU-Handel im Jahr 2021 auf Platz 10 rangiert. Wie die EU-Kommissionspräsidentin feststellte, bleibt da noch viel Raum nach oben, in die vorderen Ränge. Doch was bringt die EU-Politiker dazu, gerade jetzt die Nähe zu Indien zu suchen?
Immerhin sind die Diversifizierungsbemühungen der deutschen Wirtschaft bezüglich ihrer Handelsbeziehungen im vollen Gange. Dirk Jandura, Präsident des Bundesverbandes Großhandel, Außenhandel, Dienstleistungen (BGA), teilte Ende Mai dieses Jahres mit: „Ein sofortiger und kompletter Rückzug aus China ist aus volkswirtschaftlicher Sicht aktuell nicht möglich. Die gegenseitigen wirtschaftlichen Abhängigkeiten sind im Falle Chinas um ein Vielfaches höher als bei Russland.“
Denn immerhin ist China seit 2016 mit einem Warenaustausch in 2021 von mehr als 245 Milliarden Euro Deutschlands wichtigster Handelspartner. Doch der BGA-Chef stellt nichtsdestotrotz fest, dass sich die „Abhängigkeit von Staaten wie China […] also nach und nach [verringert]. Aber das braucht Zeit und verursacht höhere Kosten.“ Ja, auch, weil nicht zuletzt die deutsche Energiewende ohne Polysilizium aus ost-chinesischen Regionen schwierig werden könnte. Doch das steht auf einem anderen Blatt.
Neben den wirtschaftlichen Gründen sind es auch ideologische, die für eine Wiederbelebung der Handelsabkommen-Verhandlungen mit Indien sorgen. Ganz im Gefolge deutscher Familienunternehmen, die eine Neuaufstellung Deutschlands und Europas durch mehr Handel mit demokratischen Rechtsstaaten fordern, sucht die EU die Nähe zur mit fast 1,4 Milliarden Einwohnern bevölkerungsreichsten Demokratie und zu einer der größten und am schnellsten wachsenden Volkswirtschaften der Welt.
Die aktuelle Lage mit dem Ukraine-Krieg tut dazu ihr übriges: „Ein weiterer Grund für die EU, sich um eine erneute Zusammenarbeit mit Indien zu bemühen, ist die relativ zurückhaltende Reaktion des Landes auf die russische Invasion in der Ukraine. Die indische Armee ist bekanntermaßen stark auf russische Lieferungen und Waffensysteme angewiesen, was die EU durch eine engere wirtschaftliche Zusammenarbeit ausgleichen möchte“, heißt es bei EURACTIV.
Bis Ende 2023 sollen die Gespräche abgeschlossen sein. Parallel dazu arbeiten beide Seiten auch an der Festlegung der Ziele, des Umfangs und des Formats des Handels- und Technologierats EU-Indien (TTC). Über ihn sollen Geschäfte in Technologiebranchen erleichtert werden und eine Abstimmung beim „Wettstreit um weltweite Standards“ stattfinden.
Doch die Ziele scheinen leicht überambitioniert. Vor allem, wenn man die Resümees der Verantwortlichen beim 15. EU-Indien-Gipfel 2020 liest. Ein hochrangiger EU-Beamter äußerte seinerzeit offenbar vor der Presse, dass sich beide Seiten seit dem Aussetzen der Verhandlungen 2013 nicht nähergekommen sein: „Ganz im Gegenteil.“ Indien positioniere sich eher protektionistisch und bewege sich in einigen Bereichen zurück, wenn es um den Marktzugang für europäische Firmen gehe. Die EU und Indien seien noch sehr weit entfernt von einem „ehrgeizigen Abkommen“.
Und die ganze Hybris der EU-Politiker wird in den damaligen Äußerungen von Vertretern der Europäischen Union deutlich: „Hier unterhalten sich die zwei größten Demokratien der Welt.“ Der für Handel zuständige Vizepräsident und EU-Kommissar Valdis Dombrovskis erklärte deshalb auch: „Für die EU ist die Partnerschaft mit Indien eine unserer wichtigsten Beziehungen für das kommende Jahrzehnt.“
Doch auch wenn den Angehörigen der „ID“-Fraktion des Europäischen Parlaments unterstellt wird, dass sie beim internationalen Handel das Internationale stört, ist das nur ein Teil der Wahrheit. Die Fraktion „Identität und Demokratie“ weiß sehr wohl, dass besonders Deutschland seinen Wohlstand unter anderem auch dem Handel verdankt, doch die nationalen Interessen der Mitgliedstaaten haben letztlich vor hemmungslosem Freihandel Vorrang. Denn gerade die jüngsten politischen und wirtschaftlichen Entwicklungen zeigen, wie gefährdet Handelsabkommen und weltweite Lieferketten sind. Eine völlig aus den Fugen geratene Geldpolitik, wie sie etwa EZB-Chefin Christine Lagarde exekutierte, lässt im Übrigen den durch Handel erworbenen Wohlstand auch schnell dahinschmelzen.
Natürlich ist es grundsätzlich vernünftig, die Nähe zu einem Schwellenland wie Indien zu suchen. Doch auch hier nur die Kompassnadel ideologisch auszurichten und sich auf angebliche, gemeinsame Werte zu berufen, dürfte nicht reichen. Beruhigend dafür zu wissen, dass die EU-Kommission verkündet: „Die EU und Indien teilen beim Schutz ihrer geografischen Angaben ähnliche Werte. Das Abkommen über geografische Angaben wird nach seinem Abschluss ländliche Gemeinschaften unterstützen und dazu beitragen, das kulturelle und kulinarische Erbe beider Seiten zu bewahren.“
Der Autor, Markus Buchheit (AfD), ist tätig als Abgeordneter im Europäischen Parlament.