Verein Journalismus und Wissenschaft

Traditionalistische Weltrevolution? Eine Replik

Von Lothar W. Paw­lic­zak. Beim Lesen des Tex­tes von Jens Wolfs­ber­ger und vie­ler Tex­te, die sich mit der zukünf­ti­gen Ent­wick­lung befas­sen, „drängt sich mir dabei ein Ein­druck von inhalt­li­chen Sack­gas­sen auf.“ Kann man mit Klaus Schwab von einer neu­en Epo­che »nach Coro­na« reden? Wenn man meint, wir hät­ten es mit einem Epo­chen­um­bruch zu tun, „in dem min­des­tens drei lang­fris­ti­ge his­to­ri­sche Zyklen an ihr Ende gelan­gen“, dann muß man doch wohl ange­ben, um wel­che Epo­chen es sich handelt.

Gemeint ist wohl die Ent­de­ckung der lan­gen Wel­len der Kon­junk­tur durch Niko­lai Dmit­ri­je­witsch Kond­ra­tieff und deren Inter­pre­ta­ti­on durch Joseph A. Schump­ter. Peter Ruben deu­te­te, dem fol­gend, den Auf­stieg des Sowjet­im­pe­ri­ums ab den 1930er Jah­ren, sei­ne Aus­deh­nung auf Ost­eu­ro­pa, schließ­lich des­sen Sta­gna­ti­on und Ver­fall als Auf­schwungs- und dar­auf fol­gen­de Nie­der­gangs­pha­se, die 1989/90 ihr Ende fand.[1] Es han­delt sich um einen etwa 55jährigen Kon­junk­tur­zy­klus. Nach einer Deu­tung von Fer­nand Brau­del ist die­se Zyklus­dau­er eine anthro­po­lo­gi­sche Kon­stan­te, die zwei Gene­ra­tio­nen umfaßt.[2]

Dar­aus läßt sich auch schluß­fol­gern: Wir erleb­ten bis etwa 2016 die Auf­schwung­pha­se eines neu­en, etwa 55jährigen Zyklus, befin­den uns der­zeit in der Abschwung­pha­se, die wohl Anfang der 2040er Jah­ren ihren Tief­punkt errei­chen wird. Han­delt es sich dabei um eine »Kapi­ta­lis­mus­kri­se«, wie vie­le meinen?

Dazu wäre – wie Wolfs­ber­ger rich­tig meint – erst­mal der Begriff des Kapi­ta­lis­mus zu klä­ren. Ist der Kapi­ta­lis­mus „die Wirt­schaft [, die] – wie ein Süch­ti­ger von sich bestän­dig stei­gern­den Dosen sei­ner Dro­ge – abhän­gig von einer per­ma­nen­ten Ver­meh­rung des Kapi­tals“ ist? Wolfs­ber­ger lie­fert nicht, wie er meint, »Mar­xis­mus von rechts«, son­dern er plap­pert hier ein Marx­sches Nar­ra­tiv unre­flek­tiert nach. Defi­niert man Kapi­tal als Geld, das zum Zwe­cke der Gewinn­erzie­lung aus­ge­ge­ben (inves­tiert) wor­den ist[3], und defi­niert man mit Schum­pe­ter Kapi­ta­list als jeman­den, der Kapi­tal für die Ent­wick­lung vor­streckt, ent­we­der aus dem eige­nen Ver­mö­gen für eige­ne Vor­ha­ben oder als Kre­dit für die Vor­ha­ben ande­rer, so erhal­ten wir einen Begriff des Kapi­ta­lis­mus: Kapi­ta­lis­mus ist eine Wirt­schafts­form, die Ent­wick­lung über Kre­dit (gegen sich selbst oder gegen Drit­te) realisiert.

Was aber ist Ent­wick­lung? Die eigent­li­che Leis­tung von Joseph A. Schum­pe­ter besteht dar­in, zwi­schen Wachs­tum und Ent­wick­lung unter­schie­den zu haben.[4] Wirt­schaft­li­che Ent­wick­lung ist, anders als wirt­schaft­li­ches Wachs­tum, die Ent­ste­hung von Neu­em, von neu­en Arbeits­ar­ten, neu­en Tech­no­lo­gien, neu­en Pro­duk­ten, neu­en Ver­kehrs- und Ver­triebs­for­men und Ent­wer­tung alter (crea­ti­ve des­truc­tion). Dies wird bis heu­te weit­ge­hend ver­kannt. In den Hand­bü­chern sei Schum­pe­ter zu einer Fuß­no­te gewor­den.[5] „Schum­pe­ters wohl wich­tigs­ter Bei­trag zur Dog­men­ge­schich­te, sei­ne Theo­rie der wirt­schaft­li­chen Ent­wick­lung“ sei „heu­ti­gen Öko­no­men kaum noch ver­ständ­lich“, wur­de 1987 fest­ge­stellt[6].

Es wird nicht zwi­schen Wachs­tum und Ent­wick­lung unter­schie­den. Öko­no­mi­sche Theo­rien des Wirt­schafts­wachs­tums gibt es reich­lich, aber Ent­wick­lungs­theo­rien kaum: „Ob wirt­schaft­li­che Ent­wick­lung […] erkenn­ba­ren, gene­rel­len Gesetz­mä­ßig­kei­ten folgt, ist umstrit­ten. Ent­wick­lungs­theo­rien im strik­ten Sin­ne, als Pos­tu­lie­rung all­ge­mei­ner öko­no­mi­scher Bewe­gungs­ge­set­ze, sind daher sel­ten; sie konn­ten zudem ihrem hoch­ge­steck­ten Erklä­rungs­an­spruch bis­her nicht gerecht wer­den.“[7]

Wolfs­ber­ger spricht von Ent­wick­lung, meint aber rein quan­ti­ta­ti­ves öko­no­mi­sches Wachs­tum, spricht vom „all­ge­gen­wär­ti­gen Wachs­tums­zwang“ und man müs­se „den Schluß zie­hen, daß Karl Marx‘ Pro­gno­se von einem Schei­tern des Kapi­ta­lis­mus an sei­nen inne­ren Wider­sprü­chen nicht weit von der heu­ti­gen Wirk­lich­keit ent­fernt liegt“. Was bie­tet er nun als Alter­na­ti­ve an? „Nötig ist eine Alter­na­ti­ve, wel­che den bis­her ein­ge­hal­te­nen Denk­rah­men sprengt.“ Wolfs­ber­ger ver­bleibt aber im „Denk­rah­men“ rein quan­ti­ta­ti­ven Wachs­tums. Die Wor­te „Wachs­tum“ und „Ent­wick­lung“ wer­den von ihm syn­onym gebraucht. Er emp­fiehlt „eine Rück­kehr zu tra­di­tio­nel­len Gesell­schafts­for­men“ nach dem Vor­bild eines »Urkom­mu­nis­mus«. Also Abgren­zung der „Natio­nal- und Regio­nal­kul­tu­ren“ in „fried­li­cher Koexis­tenz“, die dann doch wohl gemein­wirt­schaft­lich auf einem pri­mi­ti­ve­ren Niveau als heu­te pro­du­zie­ren, jedem ihrer Indi­vi­du­en das zutei­len, was die Gemein­schaft für not­wen­dig und aus­rei­chend hält, und nicht mit­ein­an­der tau­schen, also kei­ne Waren­wirt­schaft für den Markt betrei­ben. „Rück­kehr zur tra­di­tio­nel­len Gesell­schaft“ mit einer Renais­sance reli­giö­ser Vor­stel­lun­gen – eine Uto­pie („Zukunfts­ver­si­on in einem höchst spe­ku­la­ti­ven Bereich“) eines »Gol­de­nen Zeit­al­ters«. Wolfs­ber­ger spricht aus, was Lin­ke und Grü­ne im Kopf haben. Das ist reak­tio­nä­rer Kli­ma-Alar­mis­mus von rechts (Recher­che D, Aus­ga­be 18 | Juni 2023, S. 38f)!

(Bild: Kari­ka­tur Bernd Zel­ler. Dan­ke für die Abdruckgenehmigung.)

[1] Peter Ruben: Über den Platz der DDR in der deut­schen Geschich­te, in ders.: Gesam­mel­te Phi­lo­so­phi­sche Schrif­ten hg. von Ulrich Hedt­ke und Camil­la Warn­ke in Ver­bin­dung mit Karl Ben­ne. Band 2, S. 426–515, als PDF im Internet:

https://peter-ruben.de/schriften/Gesellschaft/Ruben%20-%20Ueber%20den%20Platz%20der%20DDR%20in%20der%20deutschen%20Geschichte.pdf).

[2] Fer­nand Brau­del: Sozi­al­ge­schich­te des 18. Jahr­hun­derts. Auf­bruch zur Welt­wirt­schaft. Mün­chen 1990, S. 84 (Zuerst franz. Paris  1979). Sie­he auch Ulrich Hedt­ke: Sta­lin oder Kond­ra­tieff. End­spiel oder Inno­va­ti­on? Ber­lin 1990, S. 112–113 und Micha­el A. Alex­an­der: The Kond­ra­tiev Cycle. A gene­ra­tio­nal inter­pre­ta­ti­on. San Jose 2002, S. 14f.

[3] „Kapi­tal (aus der latei­ni­schen Wur­zel, das Haupt, abge­lei­tet) taucht im 12./13. Jahr­hun­dert in der Bedeu­tung Fonds, Waren­be­stand, Geld­mas­se oder zinstra­gen­des Geld auf.“ (Brau­del: Sozi­al­ge­schich­te des 15.–18. Jahr­hun­derts. Der Han­del. Mün­chen 1986, S. 249) Die Fra­ge nach dem Begriff des Kapi­tals wur­de jüngst erneut gestellt im Zusam­men­hang mit der Dis­kus­si­on um Tho­mas Piket­ty: Das Kapi­tal im 21. Jahr­hun­dert. Mün­chen 2014, dem vor­ge­hal­ten wur­de, er habe kei­nen „Begriff von Kapi­tal“ und set­ze Ver­mö­gen und Kapi­tal gleich (Ste­phan Kauf­mann, Ingo Stütz­le: Kapi­ta­lis­mus: Die ers­ten 200 Jah­re. Tho­mas Piket­tys »Das Kapi­tal im 21. Jahr­hun­dert« –Ein­füh­rung, Debat­te, Kri­tik. Ber­lin 2014, S. 81–90).

[4] Joseph A. Schum­pe­ter: Theo­rie der wirt­schaft­li­chen Ent­wick­lung. Leip­zig 1911; 4. (geän­der­te) Auf­la­ge Ber­lin 1934; The Theo­ry of Eco­no­mic Deve­lo­p­ment. Cambrigde/Mass. 1934; Bus­si­ness Cycles. Vol. I, II. New York 1939.

[5] Jaap J. van Dui­jn: The Long Wave in Eco­no­mic Life. Lon­don 1983, S. 18.

[6] Jür­gen Oster­ham­mel: Joseph A. Schum­pe­ter und das Nicht-Öko­no­mi­sche in der Öko­no­mie. In: Köl­ner Zeit­schrift für Sozio­lo­gie und Sozi­al­psy­cho­lo­gie. 39. Jg. (1987) Heft 1, S. 45.

[7] H. Wal­ter: Wachs­tums- und Ent­wick­lungs­theo­rie. Stutt­gart, New York 1983, S. 1f.