Beim Thema Armut überwiegen in Deutschland die Schein-Debatten und Symbol-Politik. Die jüngste Blendgranate hat die Linken-Politikerin Sabine Zimmermann ins Feld geworfen: Angeblich sei jeder dritte Sachse zwischen 18 und 25 Jahren armutsgefährdet.
Das Indiz: 35,7 Prozent in dieser Altersgruppe liegen unterhalb der sogenannten Armutsschwelle von 937 Euro Nettoeinkommen. Die Regierung müsse hier nachfassen, wird Zimmermann von zahlreichen Medien vor dem Hintergrund der neu veröffentlichen Zahlen zitiert. Aber was ist wirklich dran an der sächsischen »Jugend-Armut«?
Recherche Dresden meint: Eine Armutsdefinition, die frischgebackene Abiturienten, junge Azubis und Studenten mit 900 Euro Nettoeinkommen für »arm« erklärt, ist absurd. Selbst mit dem weicheren Konzept der »relativen Armut«, das nicht nur die Abdeckung der Grundbedürfnisse, sondern auch die Beteiligungschancen am gesellschaftlichen Leben berücksichtigt, läßt sich keine Jugendarmut herbeifabulieren: Gerade Azubis und Studenten lernen, arbeiten und feiern in Gruppen. An jeder Uni gibt es ein abwechslungsreiches Campus-Leben und durch den Wechsel Schule/Betrieb pflegen die meisten Azubis besonders viele soziale Kontakte.
Wer ist arm? Studenten oder alleinerziehende Mütter?
Der Armuts-Schwellenwert von 937 Euro ist offensichtlich vollkommen untauglich, um tatsächliche Armutsverhältnisse abzubilden. Für einen realistischen Blick auf Armut in Deutschland sind Grenzwerte beim Einkommen allein nicht ausreichend. Ein Hartz IV-Empfänger z.B., der Wohnung, Waschmaschine und Sportkurse für die Kinder bezahlt bekommt, ist nicht unbedingt »arm«; auch nicht, wenn er unter 60 Prozent des mittleren Einkommens bezieht. Gleiches gilt für einen Single-Akademiker mit Semesterticket, der in der Mensa günstig essen und sich beim Uni-Sport kostenlos betätigen kann.
Was ist aber mit der alleinerziehenden Mutter, die ihre Kinder kaum sieht, weil sie zwei Halbtagsjobs abstrampeln muß, um die hohe Miete zu begleichen? Oder dem Rentner, der im Dunkeln sitzt, weil ihm – wie mittlerweile jährlich 300.000 Haushalten – wegen Zahlungsrückständen der Strom abgeklemmt wurde? Diese Kontexte müssen berücksichtigt werden. Die Eindimensionalität der Betrachtung der Einkommen befördert dagegen nur Neid.
Die Mittelschicht kommt nicht zum Sparen
Während nun angeblich »soziale« Politiker wie Zimmermann Scheindebatten über Luxus-Sorgen junger Akademiker führen, rutscht die deutsche Mittelschicht ungebremst in die Altersarmut ab. Hier müßte eine Armutsdebatte ansetzen. Für den Jahrgang 1990 klafft bereits eine Rentenlücke von 117.000 Euro, die Arbeitnehmer aus eigener Kraft abdecken müssen.
Aber dazu müßten sie imstande sein, über 30 Jahre monatlich 240 Euro bei zwei Prozent Zinsen wegzulegen. Tatsächlich schaffen Haushalte mit einem mittleren Einkommen im Durchschnitt nur etwa 100 Euro auf die hohe Kante. Hinzu kommt, daß die deutschen Sparanstrengungen von der Nullzinspolitik der EZB unterminiert werden. Im unteren Einkommenssegment leben die Bürger dagegen generell von der Hand in den Mund.
Ein weiterer relevanter Armuts-Indikator sind die Warteschlangen an den Tafeln. Laut dem Tafel-Dachverband hat sich die Zahl der Nutzer zwischen 2005 und 2015 von 500.000 auf 1,5 Million verdreifacht. Im letzten Jahr wurde erneut ein Anstieg um zehn Prozent verzeichnet. Mittlerweile versorgen sich 1,65 Millionen Menschen an den Tafeln mit Lebensmitteln, die sie sich im Discounter nicht mehr leisten können.
Scheindebatten um vermeintliche Armut der historisch gutbetuchtesten Studentengeneration Deutschlands sind ebenso Ablenkungsmanöver wie die Politik-Simulation der für nächstes Jahr geplanten Erhöhung des Hartz IV-Satzes um sagenhafte acht Euro. Wenn die Politik die Armut verdrängen will, müßte sie mit der Euro-Politik eine ihrer heiligen Kühe schlachten. Und dann müßte sie versuchen, eine demographische Wende einzuleiten, denn irgend jemand muß den Wohlstand immer zunächst erwirtschaften, bevor er verteilt werden kann.
(Bild: Ausgabe einer warmen Mahlzeit bei der Bergedorfer Tafel, von Dagmar Schwelle, Tafel Deutschland e.V.)