In der sächsischen Landeszentrale für politische Bildung spricht man auf einmal über „Regionalität und Identität“. Ob man sich dieses Jahresthema wohl auch ohne den Druck von seiten der AfD ausgesucht hätte? Es darf bezweifelt werden. Aber egal.
Am 8. Februar 2018 referierte auf jeden Fall mit Reiner Klingholz vom Berlin-Institut für Bevölkerung und Entwicklung ein ausgewiesener Fachmann für den ländlichen Raum. Sein Vortrag und die anschließende Diskussion hatten es auch in sich. Es galt volle Attacke auf die etablierte Politik, die zwar seit der deutschen Einheit viel in Stadtentwicklungsprogramme investierte, aber den Dorf-Umbau vernachlässigte. Das rächt sich jetzt: In manchen sächsischen Gemeinden wählen mittlerweile über 40 Prozent der Bürger AfD. Seitdem versuchen die Altparteien wie ein aufgescheuchter Hühnerhaufen verlorenes Gelände zurückzuerobern.
Klingholz machte ihnen jedoch nicht den Gefallen, ein nett klingendes Maßnahmenpaket zu schnüren. Statt dessen analysierte er messerscharf die aktuelle Situation und kam dann mit Vorschlägen um die Ecke, die darauf hinauslaufen, die große Politik mitsamt ihrer Bürokratie zu entmachten und endlich wieder Subsidiarität zu ermöglichen.
Der Demographie-Forscher wies zunächst darauf hin, daß es unmöglich ist, alle Menschen im ländlichen Raum zu halten. Junge Leute, die studieren wollen, müßten zum Beispiel zwangsläufig in die Großstadt ziehen. Wie die Hochschule Mittweida zeige, bringe es auch nichts, die Bildungseinrichtungen in die Pampa zu verfrachten. Dies sorge lediglich für einen kurzfristigen Effekt. Die Studenten kommen, verschwinden nach wenigen Jahren aber genauso schnell.
Aus diesem Grund schlug Klingholz vor, das Landmarketing auf bestimmte Alterskohorten auszurichten. Viele Familien mit Kindern könnten sich die Mieten in den Großstädten kaum noch leisten. Ihnen müsse man folglich attraktive Angebote auf dem Land machen. Ebenso haben die Untersuchungen seines Instituts ergeben, daß ältere Leute immer mobiler werden und sich insbesondere für kleinere und mittelgroße Städte entscheiden, weil dort eine gute medizinische Versorgung und Infrastruktur gewährleistet ist. Wer sich für die Zielgruppe Ü50 oder sogar Ü65 entscheide, müsse allerdings zugleich Pflegekräfte anwerben.
Die Idee von Klingholz ist es also, die Theorie der komparativen Vorteile auf Regionen anzuwenden. Während sich Region A auf Familien konzentrieren soll und deshalb Schulen baut, spezialisiert sich Region B auf ein gutes Ärzte-Netzwerk. Entgegenzuhalten ist diesem Vorschlag freilich, daß dann die gesellschaftliche Mischung verlorengeht. Aber vielleicht ist das ja der generelle Preis der Moderne?
Nun stellt sich die Frage, warum die ländlichen Regionen nicht längst so agieren, wie von Klingholz gefordert. Dieser meint, dies liege hauptsächlich an völlig absurden, bürokratischen Vorschriften, die mit „kontrollierter Anarchie“ überwunden werden müßten. So ist es etwa Ärzten nicht erlaubt, Zweitpraxen im ländlichen Raum zu eröffnen und sich diese mit anderen zu teilen. Dabei wäre es für eine Kleinstadt ein absolutes Erfolgsmodell, wenn in einer Gemeinschaftspraxis am Montag und Donnerstag der Allgemeinarzt vor Ort ist und an den anderen Tagen bestimmte Fachärzte. In der Bundesrepublik ist dies jedoch leider verboten.
Wie es gehen könnte, zeigt derweil ausgerechnet das traditionell zentralistische Frankreich. Zum einen ist hier der Breitbandausbau in ländlichen Regionen deutlich fortgeschrittener als in Deutschland. Zum anderen berichtete Klingholz von einem Projekt, bei dem die Städter aus Paris mit dem Bus in schicke Dörfer gefahren werden. Dort zeigt man ihnen dann ansprechende Häuser, die sie kaufen oder mieten könnten. Die Erfolgsquote soll angeblich bei 20 Prozent liegen.
(Bild: Sächsische Landeszentrale für politische Bildung)