Von Lothar W. Pawliczak. Ja, Joseph A. Schumpeter hat auf einem Notizzettel privatissimo sein Buch Capitalism, Socialism and Democracy als „socialism book“ bezeichnet, aber wohl nie öffentlich. Nein, Schumpeter ist damit nicht zum Sozialisten geworden.
Genau das aber behauptete der Herausgeber der deutschsprachigen Ausgabe von 1946, Edgar Salin, im Vorwort: „Schumpeter ist Sozialist.“ (S. 542. Alle Seitenangeben nach der 10. Auflage.), ja gar ein „überzeugte[r] Sozialist“ (S. 543). Salin ließ zudem den fünften Teil „A Historical Sketch of Socialist Parties“ (S. 401–494) weg, in dem sich Schumpeter mit den gängigen Sozialismen auseinandersetzte. Der fehlt auch in der zweiten von Salin besorgten Auflage (1949), darüber hinaus dessen Distanzierung vom Sowjetregime und das für die zweite englische Ausgabe von 1946 verfasste Schlusskapitel „The Consequences of the Second World War” (S. 495–533).
Salin behauptete im Vorbericht zur zweiten Auflage, Schumpeter habe sich „ablehnend gegen eine Übertragung dieses Kapitels“ verhalten. Tatsächlich schrieb er am 12. Dezember 1949 an Schumpeter, das neue Kapitel XXVIII werde er nicht in die zweite Auflage aufnehmen und das Vorwort zur zweiten englischen Auflage „kupieren“.
Hauptwerk als Torso
Wie man weiß, waren Schumpeter, seine Frau und Freunde insbesondere über die Titulierung Schumpeters als Sozialisten empört. Elisabeth Boody Schumpeter untersagte schließlich Salin, den Torso des Schumpeterschen Werkes weiter zu verbreiten. Gleichwohl erschien es so in insgesamt neun Auflagen. Nunmehr – nach 76 Jahren – liegt mit der 10. Auflage dieses Werk vollständig auch in deutscher Sprache vor, herausgegeben und mit einem Vorwort versehen von Heinz D. Kurz.
Freunde und Schüler wiesen die Umdeutung Schumpeters zum Sozialisten zurück, gleichwohl geistert sie immer noch gelegentlich durch die Medien. Schumpeter selbst war da öffentlich zurückhaltend, sah sich aber veranlaßt, in einem Vortrag am 30. Dezember 1949 klarzustellen: „Wir können deshalb den Marsch in den Sozialismus als gleichbedeutend mit der Eroberung der Privatwirtschaft durch den Staat ansehen. […] Ich rede dem Sozialismus nicht das Wort. Ebenso habe ich nicht die Absicht, seine Wünschbarkeit oder Nichtwünschbarkeit, was man auch immer darunter verstehen mag, zu untersuchen. Noch wichtiger ist es jedoch, keinen Zweifel darüber zu lassen, dass ich ihn weder «prophezeie» noch voraussage.“
„Schöpferische Zerstörung“ maßlos überschätzt und falsch interpretiert
Dass Schumpeter alles andere als ein Sozialist war, dürfte nun wohl auch jedem Leser, der nicht das englische Original zur Kenntnis genommen hat, mit der Lektüre der 10. Auflage klar werden. Viel gravierender aber ist die Frage, was der Kerngehalt dieses am meisten rezipierten Buches von Schumpeter ist. Die am häufigsten zitierten Worte Schumpeters stammen aus diesem Buch: „schöpferische Zerstörung“. Ist das seine entscheidende und bleibende Leistung? Ist die auf zwei Worte reduzierte Interpretation des rund 600 Seiten umfassenden Werkes nicht vielleicht mit der Neuedition zu überprüfen?
Das so überschriebene Kapitel umfaßt nur sieben Seiten (S. 103–109), im Kapitel selbst kommen die Worte „schöpferische Zerstörung“ nur zweimal vor und sonst nirgends in Schumpeters Schriften. Sie stehen hier zusammenfassend für den ständigen „Prozeß einer industriellen Mutation […], der unaufhörlich die alte Struktur zerstört und unaufhörlich eine neue schafft.“ (S. 106) Wenn man weiß, dass es in Schumpeters Nachlaß ein 38seitiges Typoskript Capter III – Creative Destruction gibt, wird man wohl allein aus den beiden Worten keine Theorie ableiten können. Das Typoskript wird noch in diesem Jahr im Schumpeter-Archiv (https://schumpeter.info/) mit den „Pieces of manuscrips, discarded manuscrips, notes and other material fort the socialism book“ (insgesamt ca. 1.400 Seiten) veröffentlicht werden.
Die interpretierende Literatur hat Schumpeters Begriff der Innovation als creative destruction umgedeutet. Schumpeters Interesse gilt aber der Variation und Kombination von Produktivvermögen, der Umwertung von Arbeitsarten und der Entstehung von Neuem. Er legt den Schwerpunkt auf „schöpferisch“ und nicht auf „zerstörerisch“. Er betont immer wieder den Unterschied zwischen normalen und abnormalen wirtschaftlichen Anpassungen. Bei letzteren weist er darauf hin, dass diese im Entwicklungsprozeß „funktionslos“ seien – zerstörerisch – und durch wirtschaftspolitische Fehlentscheidungen, Paniken und soziale, nationale wie internationale Auseinandersetzungen verursacht sind, nicht durch immanente ökonomische Ursachen.
Heinz D. Kurz legt in seiner Einführung (S. XIII-XLVI) die Editionsumstände des Werkes dar, die Entstehungsgeschichte, analytische Fluchtpunkte, um dann die einzelnen Teile des Buches zu referieren. Wieso Salin dieses Buch in deutscher Sprache herausgab, ist unklar. Salin behauptete zwar, Schumpeter habe ihm „die Gestaltung der deutschen Ausgabe völlig überlassen“, aber soweit aus dem Edgar-Salin-Nachlass der Universitätsbibliothek Basel zu schließen ist, unterrichtete er Schumpeter von der deutschen Ausgabe erst nach deren Erscheinen.
Am 20. März 1947 schrieb Schumpeter an Salin (Salins Briefe sind nicht erhalten): „Ich habe bislang kein Exemplar der deutschen Übersetzung von Kapitalismus etc. erhalten oder zu Gesicht bekommen.“ Er habe bislang „überhaupt nichts von der ganzen Angelegenheit gehört“, meinte dann aber, „dass die Übersetzung bei Ihnen in den bestmöglichen Händen war, stand ja a priori fest“.
Erst am 19. April 1947 bedankte er sich für die ihm zugegangenen Exemplare und für die Übersetzung des Buches, das bereits 1945 erschienen war. Das Impressum weist dagegen das Erscheinungsjahr 1946 aus. Dass die Übersetzung bei Salin nicht in den bestmöglichen Händen war, konnte Schumpeter nicht wissen: 1944 hatte Salin unter dem Titel Nochmals ein dritter Weg? eine negative Besprechung von Schumpeters Buch in der Zeitschrift für schweizerische Statistik und Wissenschaft veröffentlicht und es ist unklar, ob die überhaupt je Schumpeter zur Kenntnis gelangte.
Schumpeter und Marx
Salin hatte in seiner Rezension geschrieben, das Buch „bietet als solche[s] für den kontinentalen Leser wenig Neues“, sei „nicht stets überzeugend“. Schumpeters „Überzeugungen sind sozialistisch, doch nicht marxistisch“, das Anschauungsmaterial sei „oft willkürlich ausgewählt und noch willkürlicher gedeutet“. Der Hintergrund war, dass Salin entsprechend der unter deutschen Historikern vorherrschenden Meinung darauf bestand, Geschichte sei eine Abfolge einmaliger Ereignisse. Nach dieser Auffassung könne es sich bei der Geschichtsdarstellung nur um quasi literarische Erzählungen dessen, „was war“, handeln.
Unter dieser angenommenen Voraussetzung muß man Schumpeters Lebenswerk als Ganzes mißverstehen. Es bleibt unter dieser Voraussetzung unklar, wieso Schumpeter die theoretische Leistung von Karl Marx so sehr schätzte und ihn als einen der bedeutendsten ökonomischen Theoretiker würdigte. Läßt man sich nicht auf den entwicklungstheoretischen Ansatz von Schumpeter ein und glaubt, es gäbe keine historische Entwicklung, sondern nur eine Abfolge von Ereignissen, dann liegt wohl die Deutung nahe: Schumpeter hätte Marx geschätzt, weil er selbst Sozialist war.
Leider führt Heinz D. Kurz diese Thematik in seiner Einleitung nicht weiter aus, erwähnt zwar, dass Schumpeter mit der Arbeit am „socialism book“ im Sommer 1934 begann und parallel dazu an seinem Werk Business Cycles: A Theoretical, Historical and Statistical Analysis of the Capitalist Process arbeitete, das in zwei Bänden 1939 erschien. Kurz erwähnt auch, dass diese Arbeit über die Zyklen der Wirtschaftsentwicklung das theoretische und historische Fundament für das „Sozialismusbuch“ bietet, der zugrundeliegende entwicklungstheoretische Ansatz bleibt bei Kurz aber unterbelichtet.
Der Marxismus war eine Zivilreligion
Schumpeter würdigte immer wieder die Leistung von Karl Marx, die moderne Wirtschaft als dynamischen Prozeß gefaßt zu haben, unterlag dabei aber dem weit verbreiteten Irrtum, dessen an Hegel orientierte Vorstellung der Gesellschaftsformationen sei eine Entwicklungstheorie. Tatsächlich haben wir es bei Marx mit einer Eschatologie zu tun: Das Wachstum des Kapitalismus führe schließlich zur erlösenden Katastrophe. Die Kapitalakkumulation schreite bis zum Zusammenbruch fort. Das politische Urteil vollziehe die proletarische Revolution, die die Erlösung bringe.
Schumpeter versuchte, Marxens Erklärung, dass der Kapitalismus sich selbst ständig revolutionieren müsse, als bahnbrechenden ökonomischen Entwicklungsansatz von dessen ideologischer Verheißung zu trennen, nach der in einer erlösenden Zukunft „alle Springquellen des genossenschaftlichen Reichtums voller fließen“ und das Prinzip gelte: „Jeder nach seinen Fähigkeiten, jedem nach seinen Bedürfnissen“ (Kritik des Gothaer Programms).
Nicht Marx, sondern erst Schumpeter hat einen wirklichen Ansatz für eine ökonomische Entwicklungstheorie hervorgebracht. Soweit bekannt, hat Schumpeter seinen entwicklungstheoretischen Grundgedanken zuerst am 2. Januar 1911 in einem Vortrag in Wien vorgestellt. Er war damit der erste Theoretiker, der klar zwischen ökonomischem Wachstum, bei dem das Wirtschaftsleben sich zwar ausweitet, aber in den gewohnten Bahnen verläuft, von Entwicklung, in der Neues – d.h. bisher nicht Dagewesenes – entsteht, unterscheidet. Das ist seine grundlegende Leistung!
Nur wer gegen den Strom schwimmt, kann Innovationen hervorbringen
Schumpeter rehabilitiert den Unternehmer, den Marx letztlich nur als kapitalistischen Ausbeuter sah. Es ist – so Schumpeter – der Unternehmer, der aus den gewohnten Bahnen ausbricht, Neues schafft, gegen den Strom schwimmt, das Neue durchsetzt und aufgrund dessen seinen Unternehmerlohn realisiert. Schumpeters Begriff des Unternehmers unterscheidet sich dabei klar von der landläufigen Vorstellung vom Unternehmer: Für Schumpeter ist „Unternehmer“ ein Synonym für „Neuerer“.
In Business Cycles analysierte Schumpeter, wie der Entwicklungsprozeß als Entstehung von Neuem historisch vor sich geht: In zyklisch auftretenden Rezessions- und Depressionsphasen werden nicht mehr konkurrenzfähige Unternehmen vom Markt gedrängt. In den Aufschwungphasen setzen sich Basisinnovationen durch, die als Erfindungen oft in den vorangegangenen Rezessions- und Depressionsphasen erstmals aufgetreten sind. Innovationen sind prägend für die zyklische Erholung, das ökonomische Gleichgewicht wird wieder hergestellt, aber durch neue Erfindungen gestört: die nächste Rezession setzt ein.
Schumpeter macht die Innovation am Unternehmer fest, erklärt ihr Aufkommen und ihre Durchsetzung aus der besonderen „sozialen Energie des Individuums“, die nicht jeder habe. Eine wirkliche Erklärung ist das nicht. Und genau das ist die Schwäche seines an sich richtigen Ansatzes. Und genau das ist auch die Schwäche seines „Sozialismusbuches“.
Die Arbeit selbst schafft Neues
Mit einer Fixierung auf den schöpferischen Unternehmer übersieht Schumpeter einerseits, dass es die Arbeit selbst ist, die Neues schafft. Jeder REFA-Ingenieur, jeder Unternehmensberater, jeder Betriebsführer weiß, was schon Karl Marx wußte: „Die wirkliche Ökonomie – Ersparung – besteht in der Ersparung von Arbeitszeit […]; diese Ersparung aber [ist] identisch mit der Entwicklung der Produktivkraft.“
Schumpeter wußte natürlich auch, „die neuen Möglichkeiten sind immer vorhanden, reichlich angehäuft von Leuten in ihrer gewöhnlichen Berufsarbeit“. Er ist aber ganz fixiert darauf gewesen, dass der Unternehmer die Idee des Neuen hat und sie als Innovation durchsetzt. Dass diese Idee im kooperativen Arbeitsprozeß und im Gedankenaustausch der Produzenten wie in praktischen Versuchen und Irrtümern hervorgebracht wird, ist nicht sein Thema. Sein Thema ist, dass der Unternehmer sich durchsetzt. Dabei übersieht er auf der anderen Seite, dass der Unternehmer die Neuerung immer nur darbieten kann; ob sie sich gesellschaftlich durchsetzt, entscheidet der Markt. Das ist der Einwand von Friedrich August von Hayek gegen Schumpeter: Nicht der Unternehmer, sondern der Markt macht die Innovation.
So kommt Schumpeter zu einem fatalen Schluß: Marx folgend, dass der Kapitalismus sich selbst fortwährend revolutionieren müsse, diagnostiziert er, dass es der Erfolg des Kapitalismus ist, der ihn selbst zerstört. Heinz D. Kurz fasst die Diagnose so zusammen:
„Die von Marx zutreffend vorhergesagte Konzentration des Kapitals in großen Firmen, Aktiengesellschaften und Trusts führt zur routinemäßigen Organisation von Forschung und Entwicklung und verlangt einen langfristigen Planungshorizont. Die dem Kapitalismus innewohnende technologische und organisatorische Dynamik sowie der Prozeß der unaufhörlichen Rationalisierung und Bürokratisierung bereiten dem Sozialismus das Feld.“
Schumpeter und der Datenkapitalismus der Gegenwart
Kurz scheint dem nicht ganz abgeneigt zu sein, wenn er daran anknüpfend schreibt: „Der neue «Datenkapitalismus» bietet gänzlich neuen Möglichkeiten […]. Allwissen über uns […] wird immer mehr eine Fähigkeit des Menschen und seiner Maschinen und Algorithmen. Auf der einen Seite wächst so die Möglichkeit sozialistischer Planung und Steuerung, auf der anderen Seite die Gefahr des totalitären bzw. faschistischen Missbrauchs der technologischen Mittel.“ Aber sollte uns der Zusammenbruch des realen Sozialismus nicht gelehrt haben, dass eine umfassende gesamtstaatliche Planung nicht möglich ist? Wirklichkeit ist immer nur bedingt – eben als Modell – am Computer simulierbar. „Allwissen“ gibt es ebensowenig wie „Alternativlosigkeit“.
Schumpeter ignorierte, dass der Sozialismus als gesamtgesellschaftliches Plansystem dem Unternehmer keinen Spielraum läßt, weil es da nur noch einen „Unternehmer“ gibt: die zentrale Entscheidungs- und Planbehörde. Jede Neuerung ist ein Verstoß gegen den Plan, eine Rebellion gegen das sozialistische System. Das Neue planen zu wollen, setzt die Absurdität voraus, es zu wissen, bevor es da ist.
Faschistischer Sozialismus
Schumpeter, der Sozialismus immerhin für möglich hielt, prognostizierte zutreffend als Fazit seiner Analyse: „Letzten Endes bedeutet die wirksame Leitung der sozialistischen Wirtschaft nicht die Diktatur durch, sondern über das Proletariat in den Fabriken.“ Es gäbe „wenig Grund zu glauben, dass dieser Sozialismus das Heraufkommen jener Zivilisation bedeuten wird, von der orthodoxe Sozialisten träumen. Es ist viel wahrscheinlicher, dass er faschistische Merkmale aufweist.“
Zu dem gleichen Schluß kam Hayek, dessen zwei Jahre nach Schumpeters „Sozialismusbuch“ erschienenes Werk Der Weg zur Knechtschaft man auch als eine Antwort auf Schumpeter, den Hayek dort mit keinem Wort erwähnt, verstehen kann: Es wurde „gerade der Erfolg des Liberalismus zur Ursache seines Niedergangs“. Die sozialistischen Ideen, die erst mit der erfolgreichen Entwicklung der kapitalistischen Wirtschaft entstehen konnten, drangen mit ihren Wohlstandsversprechungen vor und schließlich finden sich viele, „die als Sozialisten begonnen und als Faschisten oder Nationalsozialisten geendet haben“.
Zehnte Auflage: Kapitalismus, Sozialismus und Demokratie. Hier erhältlich.