Von Tobias Schaar. Wenn man sich die Frage stellt, ob es im Rahmen ökonomischer Theorien einen weiteren Weg gibt, also einen Weg jenseits von Kapitalismus und Sozialismus, so ist es zunächst notwendig, sich mit den beiden gängigen Wirtschaftssystemen kurz zu befassen. Anschließend möchte ich eine Möglichkeit betrachten, die sich dem Ideengang nach zwischen diesen beiden Extremen bewegt.
Kapitalismus und Sozialismus
Unter dem Begriff des Kapitalismus versteht man grob vereinfacht ein Wirtschaftssystem, das auf Grundlage eines freien Marktes und eines freien Wettbewerbs den Kapitalbesitz des einzelnen zum Ziel hat. Soweit die trockene Theorie. Wenn die Rede vom freien Markt und vom freien Wettbewerb ist, so verbinden wir damit spontan etwas höchst Positives. Denn Freiheit, dass haben wir alle brav in der Schule gelernt, ist etwas Positives.
Doch muss damit auch stets die Frage verbunden sein, wessen Freiheit denn gemeint ist, und ob diese Form von Freiheit nicht andere in ihrem Wohlergehen schädigt. Denn nimmt man die Rede vom freien Markt wörtlich, so bedeutet dies nichts weiter, als das die Agitatoren des Marktes, sprich Unternehmer, Industrielle usw., in ihrem marktwirtschaftlichen Agieren vollkommen uneingeschränkt sind. Sie müssen keine Rücksicht auf Dinge wie das Allgemeinwohl nehmen, denn oberstes Ziel ist es, so viel Gewinn wie möglich zu machen.
Das Wirtschaftswachstum ist das oberste Ziel in kapitalistischen Systemen. Ausbeutung und Verarmung vieler Gesellschaftsschichten waren und sind die Begleiterscheinung dieser Wirtschaftsordnung. Auch wenn es in den letzten Jahren, angefangen bei Otto von Bismarck und Ludwig Erhard, viele soziale Ausgleichsmaßnahmen gegeben hat, so ist doch das Primat der Wirtschaft über die Politik noch immer unangefochten. Gut zu beobachten ist dies aktuell an den hysterischen Meldungen aus Medien und Politik, wonach die Wirtschaft in diesem Jahr „nur“ 0,8 Prozent statt wie gehofft 1,5 Prozent wächst.
Wachstumsorientierte Politik
Wenn hochrangige Vertreter der Wirtschaft also meinen, durch konkrete Maßnahmen für ein höheres Wachstum zu sorgen, bemüht sich die Politik im Regelfall diesen Wünschen nachzukommen. So wie Anfang April in Japan, als die dortige Regierung aufgrund massiven Drucks großer Konzerne ein Gastarbeiterprogramm beschloss. In Japan ein Novum, gab es doch dort die letzten Migrationsbewegungen im 7. Jahrhundert nach Christus. Es sei nur am Rande bemerkt, dass es erst durch kapitalistische Strukturen möglich war, dass Institutionen wie Standard Oil, die Fed, oder Bankhäuser wie J.P. Morgan entstanden, deren Rolle insbesondere im Rahmen des Ersten Weltkriegs mittlerweile mehr als gut erforscht ist.
Der reine Kapitalismus kann aus diesen und noch vielen weiteren Gründen daher nicht die Lösung des menschlichen Miteinanders sein. Doch sein Pendant, der Sozialismus, ist dies auch nicht. Anders als beim Kapitalismus konzentriert sich der Großteil des Kapitalbesitzes beim Sozialismus nicht in den Händen weniger, sondern in denen des Staates. Ein sozialistischer Staat möchte die Wirtschaft bis ins kleinste Detail kontrollieren und regeln. Er spricht dem Individuum das Recht auf Eigentum ab. Wie das funktioniert, haben wir in der am Ende völlig verarmten Sowjetunion gesehen.
Wollen wir uns nicht mit dem Kapitalismus als kleineres Übel abfinden, müssen wir also nach einer dritten Möglichkeit zur Gestaltung der ökonomischen Verhältnisse suchen. Und dabei stoßen wir auf den Distributismus.
Distributismus: Was ist das eigentlich?
Das Wort Distributismus kommt vom lateinischen „distribuere“, was so viel heißt wie „teilen, verteilen.“ Die Deutsche Enzyklopädie definiert den Distributismus wie folgt: „Den distributistischen Vorstellungen zufolge sollte der Besitz von Produktionsmitteln so weit wie möglich in der Bevölkerung verteilt sein, statt sich im zentralen Besitz des Staates (wie im Sozialismus) oder einer begrenzten Zahl von Individuen (wie im Kapitalismus) befinden.“ Doch wie sieht eine distributistische Wirtschaft in der Realität aus?
In ihr stünde der Erwerb von (Wohn-)Eigentum im Vordergrund, ebenso die Kontrolle der Industrie durch demokratische Strukturen in Großunternehmen (Stichwort: Genossenschaft). Im Distributismus soll es zudem keine an Klassen orientierten Interessenverbände geben, wie zum Beispiel Gewerkschaften, sondern Zünfte, in denen gleichermaßen Arbeitnehmer wie auch Arbeitgeber vertreten sind. Profitorientierte Banken werden Genossenschaftsbanken gegenübergestellt.
Ein anschauliches Beispiel für das Funktionieren des Distributismus ist die spanische Unternehmung Mondragón Corporación Cooperativa, die 1943 gegründet, heute zu den größten Unternehmen Spaniens zählt und anhand der distributistischen Vorstellungen strukturiert ist.
Am Vorabend des Ersten Weltkriegs brachte Hilaire Belloc sein Buch Der Sklavenstaat (rezensiert in Recherche D, Heft 5, Mai 2019 auf S. 50f) heraus, das bis heute als eines der Standardwerke zu diesem Thema gilt. Das erwähnte Buch ist nun im Renovamen-Verlag in einer deutschen Neuübersetzung erschienen. Gilt Belloc heute zu Recht als einer der gedanklichen Schöpfer dieser ökonomischen Theorie, so kann der Distributismus jedoch nicht vollumfänglich verstanden werden, wenn man sich nicht dessen Wurzeln zuwendet.
Die Wurzeln des Distributismus
Diese gehen auf eine 1891 von Papst Leo XIII. veröffentlichte Enzyklika zurück. In dieser „Mutter aller Sozialenzykliken“ kritisiert der Papst die Verhältnisse in kapitalistischen Wirtschaftsordnungen und warnt zugleich vor der zerstörerischen Sprengkraft des Sozialismus. Anders als die Vertreter des Liberalismus, die im Staat nur einen „Nachtwächter“ sehen, definiert Papst Leo XIII. den Staat als Rechts- und vor allem als Wohlfahrtsstaat. Der Papst plädiert zudem für das Eigentum als Naturrecht, denn nur dadurch sei ein Familienvater in der Lage, den Lebensunterhalt für seine Kinder zu gewährleisten.
Wir halten abschließend fest, dass der Distributismus eine aus dem Katholizismus heraus geborene ökonomische Finanztheorie ist, die sich zumindest im privatwirtschaftlichen Bereich bereits einmal bewährt hat. Die hier in aller Kürze dargelegte Idee führt heutzutage zu Unrecht ein Schattendasein. Es ist daher zu hoffen, dass der Distributismus gerade in jenen Kreisen, die sich Gedanken über Alternativmodelle zu den derzeitigen Zuständen machen, wieder mehr in das öffentliche Bewusstsein gerückt wird. Die Lektüre des Sklavenstaates sei hierzu wärmstens empfohlen.