Kurz vor seinem Tod im Jahre 1991 prognostizierte der Kommunikationswissenschaftler Vilém Flusser kühn: »Die Werkstatt der Zukunft wird der mittelalterlichen Werkstatt mehr ähneln als der modernen Fabrik.«
Er erwartete, daß sich die Trennung zwischen Arbeit und Privatsphäre verflüssige, die Werkzeuge der »Handwerker in der Theorie« immer kleiner zu Prothesen werden und Unikate wieder an Bedeutung gewinnen. In der eigenen Tätigkeit einen Sinn zu erblicken, falle so viel leichter als im Zeitalter der Massenproduktion.
Kaum noch arbeiten?
Zugleich hoffte Flusser auf eine immense Verkürzung der Arbeitszeit auf »zehn Prozent des Lebens«. Bei dem österreichischen Schriftsteller Egon Friedell kam das Mittelalter ebenfalls sehr gut weg. In seiner Kulturgeschichte der Neuzeit (1927) betonte er: »Das Mittelalter war nicht finster, das Mittelalter war hell!«
Das Leben habe damals »viel mehr als heute den Charakter eines Gemäldes, eines Figurentheaters, eines Märchenspiels, eines Bühnenmysteriums, so wie noch jetzt unser Leben in der Kindheit«. Walter Eucken, einer der Väter der deutschen Marktwirtschaft, verteidigte darüber hinaus das Mittelalter in seinen Grundlagen der Nationalökonomie (1940), weil es im 15. Jahrhundert zum einen starke regionale Wirtschaftseinheiten und zum anderen eine »europäische Wirtschaft« höchster Reife gegeben habe.
Das fortschrittliche Narrativ vom angeblichen Aufstieg der Stadt- zur Territorialwirtschaft sei dagegen falsch. Eucken konstatierte eine Zerstörung der europäischen Wirtschaftseinheit und somit einen Rückbildungsprozeß in Folge der Schaffung zentralistischer Staaten.
Mega-Föderalismus
Sortieren und kontextualisieren wir nun ein wenig diese Gedanken: Das Mittelalter zeichnete sich durch eine »vertikale Gewaltenteilung« und einen »Mega-Föderalismus« (Bernd Marquardt) aus. Starke Abhängigkeiten gab es natürlich, aber sie beschränkten sich auf die lokale Ebene und somit das persönliche Miteinander. Das änderte sich durch das steigende Bedürfnis nach Sicherheit, das der Zentralstaat besser befriedigen konnte.
Außerdem spielte eine Rolle, daß »je entwickelter das Schreib- und Rechenwesen, desto stärker, auch im reinen Feudalstaat die Zentralgewalt« (Max Weber). Mit der Industrialisierung weiteten sich diese Bürokratien auf die Unternehmenswelt aus.
Die Folgen für die Arbeit des Einzelnen sind hinlänglich bekannt: Monotonie und Entfremdung bei Routinetätigkeiten sowie zermürbende Kontrollstrukturen in Großorganisationen, die den mechanischen Ablauf der Produktion überwachen. Um die Versorgung der Massen mit Lebensmitteln und Wohlstandsgütern sicherzustellen, war dieses Zeitalter des Taylorismus gewissermaßen genauso alternativlos wie der Zentralstaat.
Was auch immer man von ihnen halten mag und so sehr die totalitären Nebenwirkungen dieser Systeme ins Auge stechen, sollte dennoch klar sein, daß sie zu ihrer Zeit sehr zuverlässig ihre gesellschaftliche Funktion erfüllten.
Ende des 20. Jahrhunderts gelang es nun, viele dieser Funktionen der Verwaltung und Versorgung zu automatisieren. Der Mensch ist hier hauptsächlich nur noch als Koordinator gefragt, weiß aber noch immer nicht so recht, was er mit den dadurch gewonnenen Freiheiten eigentlich anstellen soll. Dies führt uns zu einer ersten wichtigen Erkenntnis, die Vilém Flusser z.B. ignorierte: Kreativität ist für viele Menschen keine Möglichkeit, sich selbst zu entfalten, wie häufig überstürzt angenommen wird, sondern eine Last.
Es ist viel einfacher, jeden Tag fünf sich wiederholende Handgriffe zu erledigen, als aufgefordert zu sein, etwas Neues, Originelles und Einzigartiges zu erfinden. Sollte sich also tatsächlich die moderne Fabrik peu à peu auflösen und an ihre Stelle miteinander vernetzte, mittelalterliche Werkstätten treten, so erfordert dies mühsame Anpassungen der Masse, die dies keineswegs als Befreiung erleben wird. Dies trifft lediglich auf eine Elite und Bohème zu.
Nach dem Ende der Massenproduktion
Dennoch stellt sich die Frage, welche Wege nach dem Ende der Massenproduktion beschritten werden können, unweigerlich. Wer sie aus Bequemlichkeit verdrängt und die Erfahrungen des 20. Jahrhunderts auf die Zukunft projiziert, wird einem Wachstumszwang anhängen, der immer größere Organisationsformen für Staaten und Unternehmen als eine Selbstverständlichkeit betrachtet. Diesem Ansatz einer konvergenten, globalen Entwicklung hängen sowohl fortschrittsliberale Kräfte als auch das linke, sozial-ökologische Lager an.
Konvergenz, das wissen wir aus der Evolutionsbiologie, die dem Fachgebiet der Geschichte naturgemäß nahesteht, läßt sich jedoch nur bei bestimmten Lösungsstrategien, etwa der Nahrungssuche oder Anpassung an Umweltveränderungen, finden. Das große Ganze umfaßt sie niemals, sonst wäre der Artenreichtum in der Natur vermutlich viel geringer.
Es erscheint deshalb als durchaus plausibel, wenn Autoren und Berater wie Niels Pfläging beschreiben, wie wir aus der Taylor-Wanne langsam aber sicher aussteigen. Die hohe Standardisierung der Produkte und Tendenz zu Monopol-Unternehmen nehme im Wissenszeitalter ab, weil hier maßgeschneiderte Lösungen vom immer individueller werdenden Kunden erwarten würden. Organisationen sollten deshalb »nicht flach sein, sondern dezentralisiert«, so Pfläging, der dies wie folgt erklärt: »Wenn außen Markt regiert, ist es innerhalb der Organisation die Peripherie, die Geld verdient, am Markt lernt, sich schnell und intelligent anpassen kann. Das Zentrum verliert seinen Kompetenzvorsprung – es kann kaum noch nützliche Anweisungen geben, Steuerung kollabiert.«
Das monarchische Gehirn
Wenn das Zentrum eines Großunternehmens nicht mehr weiß, was wirklich in der Welt geschieht, ist es in der Tat angebracht, über einen Abschied vom konventionellen Management nachzudenken. Mündet dies in der Leugnung der Notwendigkeit von Führung und Organisation, sind wir allerdings schnell bei Rousseau und sei-ner kitschigen Verherrlichung des Naturzustandes.
Friedell merkte zu diesem Punkt an: »Der Organismus der höheren Lebewesen aber ist streng arbeitsteilig, aristokratisch und hierarchisch organisiert und das Gehirn beherrscht und leitet monarchisch den ganzen Körperstaat.« Dezentral organisierte Unternehmen sind daher weiterhin auf Führung angewiesen, was auch Pfläging in seinem Buch Komplexithoden unterstreicht. Sie brauchen sogar besonders viele Aristokraten, die kleine Mitarbeitergruppen führen und Probleme direkt lösen, statt sie an ein im Wolkenkratzer hockendes Management zu delegieren.
Warum aber nun Großunternehmen überhaupt agil umgestalten? Wäre es nicht konsequenter, einfach auf kleinere Unternehmen zu setzen und die großen, unbeweglichen Dinos aussterben zu lassen? Zumindest in Deutschland ist ein solcher Wandel nicht in Sicht. Aufgrund der guten wirtschaftlichen Gesamtsituation und den damit verbundenen attraktiven Beschäftigungsmöglichkeiten liegt die Selbständigenquote bei 10,4 Prozent.
Weltweit betrachtet, gibt es nur wenige Länder, in denen diese Quote noch niedriger ausfällt.Von Jahr zu Jahr nimmt zudem die Bereitschaft der Deutschen, neue Unternehmen zu gründen, ab. 2017 waren es lediglich 557.000 Personen und damit im Vergleich zum Vorjahr gleich 17 Prozent weniger. Nur 0,45 Prozent der Deutschen zwischen 18 und 64 Jahren haben sich im zurücklie-genden Jahr als Vollerwerbsgründer betätigt. Vor fünfzehn Jahren waren es laut Kf W‑Gründungsmonitor 2018 noch fast dreimal so viele.
Ideengetriebene Gründer
In der Studie wird allerdings auch hervorgehoben, daß die neuen Existenzgründer »ideengetriebener, wachstumsorientierter und innovativer« seien als früher. Abgesehen davon, arbeiten noch immer 60 Prozent der Deutschen in mittelständischen Unternehmen. Statt dieses Rückgrat der deutschen Wirtschaft zu stärken, wird es jedoch durch unverhältnismäßig hohe Steuern, Sozialabgaben sowie ständig neue, bürokratische Umwelt- und Datenschutzbestimmungen belastet.
Mit Subventionen, Steuervergünstigungen und weiteren Einnahmeverzichten verschafft der Staat darüber hinaus hauptsächlich Großunternehmen zusätzliche Wettbewerbsvorteile. Laut dem Subventionsbericht des Instituts für Weltwirtschaft Kiel (IfW) summierte sich dies im Jahr 2017 auf rund 118 Milliarden Euro.
De facto findet damit eine Umverteilung nach oben statt, die mehrere negative Effekte hat. Neben der himmelschreienden Ungerechtigkeit ist sie ein Arbeitsplatz- und Innovationskiller. In den Neuen Bundesländern wurden in den letzten Jahren z.B. fast die Hälfte aller Arbeitsplätze von sogenannten »Gazellen« geschaffen, obwohl diese weniger als acht Prozent der Unternehmen stellen.
Bei Gazellen handelt es sich im Schnitt um kleine Unternehmen mit zehn bis 19 Beschäftigten, bei denen nach einer Findungsphase zwischen sechs und zehn Jahren irgendwann der Knoten platzt, was ihnen dann rasantes Wachstum ermöglicht. Auf die Stärkung dieser Betriebe würde sich eine kluge Wirtschaftspolitik fokussieren.
In Deutschland dagegen hängt der Erfolg des Unternehmers davon ab, »ob er in Berlin die richtigen Fäden zu ziehen wußte oder nicht«, wie es schon Wilhelm Röpke kritisierte. Diese enorme Bedeutung von Kontakten in die Politik und die dadurch entstehende Abhängigkeit vom Wohlwollen des Staates haben nicht zu unterschätzende Auswirkungen auf die Unternehmenskultur und behindern den Wandel von der mechanischen Bürokratie hin zu mehr Selbstbestimmung.
Evolutionärer Sinn
Gelingen könne dieser Wandel nur, wenn Organisationen wieder auf ihren »evolutionären Sinn« hören, meint der Berater Frederic Laloux. Was er damit zum Ausdruck bringen will, wird am einfachsten deutlich an einigen praktischen Beispielen: Die Aufgabe eines Arztes ist es, Menschenleben zu retten und Krankheiten zu heilen, statt Patienten bloß zu verwalten. Dies läßt sich bei nahezu allen Berufen durchdeklinieren.
Die ursprüngliche Motivation des Journalisten sollte es sein, Wahrheiten aufzudecken. Der Rechtsanwalt sieht sich der Gerechtigkeit in besonderem Maße verpflichtet und eine Verkäuferin hat ihren Beruf hoffentlich ergriffen, weil sie vom Nutzen und der Schönheit der Produkte, die sie an den Mann bringen will, überzeugt ist.
Laloux appelliert also daran, die eigene Leidenschaft zu bewahren. Gewinn, Wachstum und Marktanteile seien hingegen vernachlässigbare Größen, weil jedes Unternehmen, das seinem evolutionären Sinn folgt, ein guter Arbeitgeber ist und die Leidenschaft für die eigene Sache ausstrahlt, diese Ziele trotzdem erreicht, ohne sich penibel danach auszurichten.
Weitere Schlüsselbegriffe bei ihm sind Ganzheit und Selbstführung. Es sei falsch, den Mitarbeiter nur auf sein »berufliches Selbst« zu reduzieren. Im kulturellen Sinne gewinnbringend könne er nur werden, wenn er seine gesamte Persönlichkeit einbringen darf. Dies erlaube Selbstführung, durch die Unternehmen völlig neu organisiert werden könnten.
Statt viele verschiedene Abteilungen einzurichten (Personal, Controlling, …), plädiert Laloux dafür, daß Projektteams sich selbst passende Mitarbeiter an Bord holen und auch die Budgetverantwortung tragen. Alle weiteren Entscheidungen des Alltags sollen ebenfalls in Eigenregie und durch gegenseitige Beratung getroffen werden. So sei letztendlich eine Organisation »vollständig ohne Hierarchie« möglich.
Als Vorbild für ein solches »evolutionäres Unternehmen« nennt Laloux unter anderem Buurtzorg aus den Niederlanden, das die Pflege neu erfunden habe. Der Ansatz: Buurtzorg, auf deutsch »Nachbarschaftspflege«, bemüht sich darum, ein Unterstützernetzwerk um den Patienten aus Fa-milienangehörigen, Freunden und Nachbarn zu bauen, die ihm helfen. Im Fokus steht zunächst eine vertrauensvolle Beziehung zum Patienten. Mit der Zeit soll er jedoch lernen, wieder selbständiger und unabhängig von Pflege zu werden.
Agilität oder Bürokratie
Buurtzorg will sich also im Optimalfall selbst überflüssig machen. Das gemeinnützige Unternehmen hat damit eine Tradition wiederbelebt, die es schon im 19. Jahrhundert gab. Damals war in den Niederlanden für jede Nachbarschaft eine Krankenschwester zuständig. Kranke und ältere Menschen konnten so Vertrauen zu einer Bezugsperson auf bauen. Ende des 20. Jahrhunderts wurde dieses sinnvolle System zugunsten von bürokratischen Großorganisationen zerschlagen. Diese Fehlentscheidung versucht Buurtzorg nun wieder rückgängig zu machen.
Es greift dabei auf kleine Teams von zehn bis zwölf Mitarbeitern zurück, die für ca. 50 Patienten einer Nachbarschaft verantwortlich sind. Diese Mitarbeiter müssen von der Aufnahme neuer Patienten, der Fortbildung, Urlaubsplanung, Verwaltung, Anmietung von Büros bis hin zur Zusammenarbeit mit Ärzten und Apotheken nahezu alle Unternehmensaufgaben selbst organisieren. Jos de Blok, der Unternehmensgründer, wollte von Anfang an einen Wasserkopf vermeiden, um Beruf und Berufung wieder in Einklang zu bringen. Statt in irgendeiner Zentrale zu sitzen, sollen die Mitarbeiter mit den Patienten arbeiten.
Die Resultate sprechen dabei für sich: Buurtzorg braucht 40 Prozent weniger Arbeitsstunden pro Patient im Vergleich zur konventionellen Pflege. Die Patienten verbleiben nur halb so lang in Betreuung. Es gibt ein Drittel weniger Notaufnahmen in Krankenhäusern. Das niederländische Gesundheitswesen spart so laut einer Studie von Ernst & Young zwei Milliarden Euro ein. Würde man das System auf die USA übertragen, wäre eine Kostenminimierung von bis zu 50 Milliarden Dollar denkbar. 2006 startete Buurtzorg mit zehn Pflegekräften. Mittlerweile sind es um die 10.000, die dezentral eingesetzt werden.
Die Mitarbeiter weisen 60 Prozent weniger Krankentage auf und die Fluktuation liege ein Drittel unter dem Durchschnitt in der Pflegebranche.Was zeigt dies nun? Dezentrale Unternehmen haben das Potential, bestimmte Branchen zu revolutionieren. Dies trifft besonders auf soziale Bereiche zu, wo ein sensibler Umgang mit Menschen gefordert ist.
In seinem Buch Reinventing Organizations geht Laloux darüber aber weit hinaus: Sein Konzept der Selbstführung vertraut komplett darauf, daß die gegenseitige Beratung von Mitarbeitern weitestgehend harmonisch abläuft und alle ihre Stärken auch tatsächlich einbringen wollen, sobald es ihnen gestattet wird. Die Ganzheit will er schließlich über Gruppenmeditationen, Geschichtenerzählen sowie einer Offenheit der Unternehmen für Kinder und Tiere erreichen. Dies stärke die Empathie auf Arbeit. Wie grenzenlos naiv diese Vorstellung ist, weiß jeder, der das Experiment »Kinder im Büro« schon einmal gewagt hat.
Als ich meine drei Töchter eines Tages notgedrungen ins Büro mitnehmen mußte, betätigten sie sich die erste halbe Stunde kreativ und bauten sich aus Pappe einen Laptop mit Maus und Drucker. Danach wurde ihnen langweilig und sie verwüsteten mein Büro, weil sie keiner sinnvollen Beschäftigung mehr nachgehen konnten.
Selbstführung, Ganzheit und eine Beachtung des evolutionären Sinns des Unternehmens lassen sich folglich nur implementieren, wenn diese Ideale mit einem realistischen Menschenbild korrespondieren. Dazu zählt die Einsicht, daß die meisten Menschen Führung und Orientierung benötigen. Diese dürfen jedoch nicht technokratisch wie in Bürokratien ablaufen, sondern sollten für jeden erlebbar gemacht werden, auf dem Leistungsprinzip beruhen und erfordern starke Persönlichkeiten mit Ecken und Kanten, die bei der aalglatten, opportunistischen Wirtschaftselite in Deutschland viel zu selten zu finden sind.
Erschienen in: Recherche D, Heft 2. Hier bestellen!
(Von Felix Menzel)